KULINARISCHE LITERATOUR: ERICH MÜHSAM ÜBER SALAT

ERICH MÜHSAM

Der Gesang der Vegetarier. Ein alkoholfreies Trinklied

 

Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
Auch Früchte gehören zu unsrer Diät.
Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.

Wir sonnen den Leib, ja wir sonnen den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.
Doch manchmal spaddeln wir auch im Teich,
Das kräftigt den Körper und wäscht ihn zugleich
Wir sonnen den Leib und wir baden den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.

Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
Und die Milch und die Eier und lieben keusch.
Die Leichenfresser sind dumm und roh,
Das Schweinevieh – das ist ebenso.
Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
Und die Milch und die Eier und lieben keusch.

Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.
Gemüse und Früchte sind flüssig genug,
Drum trinken wir nichts und sind doch sehr klug,
Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.

Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback,
Das tut das scheußliche Sündenpack.
Wir setzen uns lieber auf das Gesäß
Und leben gesund und naturgemäß.
Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback,
Das tut nur das scheußliche Sündenpack.

Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
Und schimpft ihr den Vegetarier einen Tropf,
So schmeißen wir euch eine Walnuß an den Kopf.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.

 

Besuch im Salatorium: Ein echter Anarchist und Agitator, da erwartet man doch einen trinkfesten Zeitgenossen. »Gebt mir Schnaps«, heißt denn auch ein Gedicht von Erich Mühsam (1878–1934). Mit seinem Spottlied über Salat, für das sein Besuch auf dem Monte Verità ihm den Anlass lieferte, zielt der Autor wohl auf Lebensreformer:innen um die Jahrhundertwende. Die im Jahr 1900 von »Aussteigern« gegründete Landkommune bei Ascona am Lago Maggiore hatte der Berliner Schriftsteller und Publizist zwischen 1904 und 1909 mehrfach aufgesucht, zunächst auf Einladung, als ihm auf einer Reise in Italien das Geld ausgegangen war. Aber vielleicht auch in der Hoffnung, auf revolutionäre Mitstreiter zu treffen? Was er vorfand, waren »Rohköstler« und Nudisten in einer Landkommune und ein vegetarisches Sanatorium, für das er den schönen Begriff »Salatorium« erfand (den Kurt Tucholsky in »Kreuzworträtsel mit Gewalt« übernahm).

Vegetarismus als Weltanschauung: Die radikalen Ernährungsvorschriften verboten nicht nur Alkohol, Tabak, Kaffee und Tee, Fleisch, Zucker und Gewürze, sondern auch Milch, Käse und Honig Ida Hofmann (1864–1926) hatte 1905 im Selbstverlag ihre Schrift »Vegetabilismus! Vegetarismus!« gedruckt, in der man heute noch nachlesen kann, dass es ihr nicht ausschließlich um Ernährung ging, sondern auch um eine nachhaltige Veränderung der Welt. Der »Industrialisierung« aller Lebensbereiche und entfremdeter Arbeit in der Großstadt setzten die Lebensreformer Landluft und Sonnenbäder, Ausdruckstanz und Gartenarbeit, streng »vegetabile« Ernährung und Reformkleidung oder gleich Nacktheit entgegen.

Detox-Kur? Mit ungewürzter Pflanzenkost sollte der Körper »entgiftet« und der Geist erfrischt werden. Zeitweise wurden auf dem Berg ausschließlich rohes Obst, ungekochtes Gemüse und Nüsse aufgetischt: »Von früh bis spät kaute ich nun Äpfel, Pflaumen, Bananen, Feigen, Wal-, Erd- und Kokosnüsse. Es war schauderhaft«, schrieb Mühsam in seinen »Unpolitischen Erinnerungen«. Sein Gegenprogramm erinnert an die Reaktion manch BBQ-liebender Männer auf die Vorstellung, sich ausschließlich mit Wasser und Gemüse verpflegen zu müssen. »Da ging ich ins Dorf hinunter, setzte mich in eine solide Osteria, ließ mir ein Beefsteak geben, trank einen halben Liter Wein dazu und rauchte danach eine große, dicke Zigarre. Nie hat mir eine Mahlzeit so geschmeckt, nie mich eine so gekräftigt und dem Leben gewonnen.« Nicht nur bei Mühsam schlägt anfängliche Begeisterung bald in Ablehnung um. Auch auf Hermann Hesse, der sich 1906 und 1907 mehrere Wochen in Ascona aufhielt, machten die »Naturmenschen« vom Monte Verità zunächst großen Eindruck, und er will seine »literarischen Nerven« durch vegetarische Kost und Fastenkuren, Alkoholabstinenz, Luft und Sonne kurieren. Enttäuscht von den »verschrobenen Außenseitern« verwertet er seine Erfahrungen in der Kurzgeschichte »Der Weltverbesser« (1911).

Dichter, Bohemien und Anarchist: Erich Mühsam hat zu Lebzeiten knapp zwei Dutzend Bücher veröffentlicht, Theaterstücke, anarchistische Pamphlete und satirische Artikel, politische Aufsätze, Gedichte und Lieder. Er gab die Zeitschriften »Kain« und »Fanal« heraus, schrieb für die Zeitschriften »Simplicissimus« und »Ulk«. 1934 wurde der Autor im KZ Oranienburg ermordet. Im Verbrecher-Verlag erschienen seine »Tagebücher 1910–1924« in 15 Bänden. Über die »Vegetarier mit teils ernsten Lebensauffassungen, teils höchst spleenigen Erlösungsideen« veröffentlichte Mühsam 1905 »Ascona. Eine Broschüre«, aus dem auch das Spottlied stammt.

 

Zitate nach der Ausgabe im Gutenberg-Projekt:

Erich Mühsam: Gedichte

https://www.projekt-gutenberg.org/muehsam/gedichte/chap013.html

Erich Mühsam: Unpolitische Erinnerungen

https://www.projekt-gutenberg.org/muehsam/unpoliti/chap10.html