ANDREAS SCHWAB: ZEIT DER AUSSTEIGER
Künstlerkolonien: Das Buch führt uns von Skagen an der Nordspitze Jütlands bis nach Tanger an der marokkanischen Küste, und vom äußersten Westen der Bretagne bis nach Griechenland. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließen sich Künstlerinnen und Künstler in der Provinz nieder und erprobten neue, nonkonformistische Lebensstile. Der Aufenthalt »auf dem Land« war von bewusster Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Andreas Schwab folgt ihren Spuren von Capri nach Worpswede, Korfu oder Taormina – einige Künstler treffen wir mehrfach wieder, denn »sie gehören zu den mobilsten Bevölkerungsgruppen und bereisen ganz Europa«. Schätzenswert ist, dass Schwab nicht nur die Berühmtheiten – etwa Paul Gauguin, Emile Bernard und Paul Sérusier in Pont-Aven – auftreten lässt, sondern auch höchstens Eingeweihten bekannte Figuren, und dass sein besonderes Augenmerk auch den Frauen gilt, die zu dieser Zeit noch keine Kunstakademien besuchen konnten und »längst nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhielten wie ihre männlichen Kollegen«. Erfreulich auch, dass der Autor einen weiten Kunstbegriff zugrundelegt, sodass nicht nur Maler als kreativ tätige Menschen Erwähnung finden, sondern auch Schriftstellerinnen, Musiker und sogar Lebenskünstler.
Barbizon und Pont-Aven: Das Buch ist als eine Art Reigen konzipiert, es beginnt mit einem Porträt des Malers Jean-François Millet, der 1849 erstmals nach Barbizon kam und sich später ganz dort niederließ. Wie er beschloss eine ganze Generation junger Künstler, »nach der Natur« zu malen – das Arbeiten unter freiem Himmel machte nicht zuletzt die Erfindung der Farbtube möglich, 1841 von einem Amerikaner zum Patent angemeldet. Von jedem Ort führt eine Person, die dort war, in die nächste Künstlerkolonie, von Barbizon beim Wald von Fontainebleau geht es mit Ida Gerhardi nach Pont-Aven in der Bretagne. Ich habe das Buch wegen der beiden Frankreich-Kapitel gekauft, in denen wir Théodore Rousseau, Robert Stevenson, August Strindberg, Mary Cassat, Félix Ziem, Helene Schjerfbeck und vielen weiteren begegnen.
Monte Verità: Der Schweizer Historiker Andreas Schwab ist auch Ausstellungsmacher – er kuratiert unter anderem Ausstellungen zu kulturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Themen. So fundiert und lesenswert die anderen Kapitel auch sind, dass sich der Autor mit der Künstlerkolonie bei Ascona am Lago Maggiore am intensivsten beschäftigt hat, lässt sich dem Buch dennoch anmerken (unter anderem daran, dass er ansonsten viel nach Sekundärquellen zitiert). Über das Thema hat er promoviert (2003 unter dem Titel »Monte Verità – Sanatorium der Sehnsucht« erschienen) und auch für die Dauerausstellung der Fondazione Monte Verità als Berater fungiert. Dass vieles nur gestreift wird, um statt einer »umfassenden Darstellung« eher die Atmosphäre der Schauplätze und übergreifende Motive herauszuarbeiten, macht das Sachbuch so unterhaltsam wie lesenswert – und neugierig auf Vertiefendes. Mich hat das Buch beispielsweise gleich dazu gebracht, den kurz erwähnten Roman »Manette Salomon« der Brüder Goncourt zu lesen…
Relevanz: Gute Ausstellungen und gute Sachbücher haben einiges gemeinsam, wenn sie über das Fachpublikum hinaus interessieren wollen. Sie sind nicht allzu simpel gestrickt, in sich schlüssig, liefern jedoch keine einfachen Antworten und überschreiten die Grenzen des bereits Bekannten, erweitern den Horizont. Ein relevantes Sachbuch – oder eine relevante Ausstellung (wie die über Bäume in Paris) – macht also nicht nur Zusammenhänge deutlich, so meine Meinung, sondern als Leserin oder Besucherin werde ich zum Nachforschen und Erkunden, zur vertieften Auseinandersetzung mit dem Thema angeregt. So ein Buch ist die »Zeit der Aussteiger« von Andreas Schwab. Ein weiterer Pluspunkt: Trotz seiner teils berühmten Protagonisten verzichtet der Autor nicht darauf, ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Dasein einzuordnen. Die Ambivalenz dieser Suche, die »letztlich vom ökonomischen Ungleichgewicht der Welt begünstigt wird«, erweist sich etwa im gesellschaftlichen Gefälle beim Zusammenleben von Künstlern und Einheimischen oder im Ausleben der Homosexualität mit jungen Knaben: »In die Inszenierung des befreiten Lebens schleichen sich häufig […] kolonialistische Bilder der weißen, städtischen und häufig männlichen Überlegenheit ein.«
Andreas Schwab, Zeit der Aussteiger. Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità, C.H.Beck, München 2021