KULINARISCHE LITERATOUR: KURT TUCHOLSKY ÜBER SALAT
Das Stimmengewirr
»Wenn ich meine Freundin Lisa – nein, die nicht, die andere – besuche, dann sind immer viele Menschen da. Und dies ist es, was ich zu hören bekomme:
» . . . haben wir uns himmlisch amüsürt Kinder ich will euch mal was sagen seit man im Tonfilm auch noch zuhören muß also ich bin nur eine einfache Frau wieso gnädige Frau man kann doch auch weghören wenn ich weghören will red ich mit meinem Mann guten Tag Panter Masochist nimmst du noch ein bißchen Obstsalat Masochist ist doch kein Fremdwort in dem Sinne doch das kann man erklären wie soll ich sagen also Masochist ist einer der päng kriegt guten Tag Panter Lisa ich muß weg ein amerikanischer Wagen der frißt Benzin hör auf mich dafür bin ich Fachmann ach auf Stottern dafür bin ich auch Fachmann wie finden Sie diese Verlobung wir haben uns halb tot gelacht na ich bitte Sie mit diesem alten Ekel das wird doch nichts das ist sogar schon was geworden nehmt doch noch ’n bißchen Obstsalat sie ist ja ganz nett aber er daß sowas ohne Wärter ausgehen darf wer sagt Ihnen daß er darf guten Tag Panter ob er schief liegt schief ist gar kein Ausdruck für den kann keiner mehr grade stehen Lisa ich muß weg unten ganz schmal also das hier oben kommt alles weg verstehen Sie mich und dann hier ein handbreites Volant aber das sieht man nicht Brecht Brecht ist doch kein Dichter nein Sie sind ’n Dichter ich bin ein einfacher Makler mich lassen Sie in Ruhe na Brecht makelt auch schon ganz schön Sie nehmen ja gar keinen Obstsalat ich kann meinen Onkel aus Stockholm so gut verstehen der hat immer gesagt er hat bloß noch einen Wunsch er möchte ganz allein auf der Welt sein und einen gutgehenden Kolonialwarenladen haben Lisa ich muß weg ach lächerlich bleib doch noch erzählen Sie mir doch nichts die Frau singt ja nach dem Korken nur London nur London Paris ist ein Schmarrn dagegen der Mann ist ja anglophob phil phil wieso viel ich frage mich wann eigentlich wenn nicht jetzt lieber Herr Rechtsanwalt die Sache mit Reinhardt ist perfekt ich habe das aus authentischer Quelle acht Monate im Jahr ist er in Berlin und die übrigen neun Monate in Wien Lisa ich muß weg guten Tag Panter nein Sie hier ich bin ja baff nein ich bin ja außer mir wissen Sie schon daß ich geschieden bin das muß ich Ihnen erzählen sie war dreimal in seinen Aufführungen ich habe Ernst Deutsch persönlich das ist struggle for wife mein Lieber ich nehm noch ’n bißchen Obstsalat ich kenne die Frau und ich sage Ihnen das ist eine Fetischistin die kann bloß lieben wenn ein Tausendmarkschein auf dem Nachttisch liegt Lisa ich muß weg na da geh doch du gräßliche Person Lisa ich muß wirklich Ali erwartet mich um halb sieben an der Gedächtniskirche himmlischer Vater es ist Viertel acht da hab ich ja noch Zeit der ganze Klub weiß es nur sie nicht spielt schon sehr gut die Frau ihre Vorhandbälle ach Vorhand Bridge natürlich Lisa ich muß nun aber wirklich er hat noch keinen Obstsalat nein wirklich ich muß grüß Ali schön halt mal das hat sie dir noch nicht erzählt also wer hat recht ich habe den Nutria sei mal still seid doch mal alle still also ich hab den Nutria selber gesehen bei ihm oben in seinem Betrieb ein himmlischer Pelz für zweitausendvierhundert er wird auch nicht weinen wenn man ihm achtzehnhundert bietet ausgeschlossen seppfaständlich kommt ja gar nicht in Frage Lisa ich muß sei mir nicht böse grüß Ali nimm dir doch nein nicht Ali den Nutria grüß Franzi und die Kinder jetzt ist sie weg wer spielt denn die Wendla in ›Frühlings Erwachen‹ wahrscheinlich die Sandrock wir nehmen noch ’n bißchen Obstsalat mein Guter . . .
Sie sagen ja gar nichts –!«
»Die Zeit schreit nach Satire«: Unter dem Pseudonym Peter Panter – einem von vieren neben Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser – veröffentlichte Kurt Tucholsky (1890–1935) regelmäßig Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen, er schrieb Theater- und Literaturkritiken, Glossen und Chansons, Reportagen, Satiren und Parodien, Feuilletons. Am 25. Mai 1930 erschien Nr. 244 der Vossischen Zeitung »Das Stimmengewirr«, mit dem sich der sprachmächtige Schriftsteller als Meister der kleinen literarischen Form zeigt. Als politischer Publizist und zeitkritischer Satiriker zog er schon in der Weimarer Republik den Hass der Nazis auf sich und stand nach der Machtübernahme Hitlers 1933 auf den ersten Ausbürgerungslisten. Als seine Bücher verbrannt wurden, lebte Tucholsky aber schon lange im Ausland, ab 1924 in Paris, seit 1929 in Schweden. Wollte er anfangs noch die Welt verbessern, resignierte der überzeugte Pazifist zusehends. 1935 nahm sich Tucholsky aus Verzweiflung über die Erfolge der Nationalsozialisten das Leben.
Ein komponierter Text: Wie ein sich variierender Refrain taucht der Obstsalat im Durcheinander gleichzeitig zu hörender Stimmen und Halbsätze auf, die regelmäßige Wiederholung gibt dem Text einen Rhythmus. Schon der Titel »Stimmengewirr« weist darauf hin, dass Klangfiguren hier als literarisches Stilmittel eingesetzt werden, auch das »Ich muß weg« als weitere Repetitio erzeugt einen Takt wie ein Metronom. Es ist der lebhafte Sound, der nicht nur den Raum einer Party oder eines Empfangs erfüllt, sondern auch diesen Text auszeichnet, erst in zweiter Linie Inhalt oder Botschaft. Mit dem Verzicht auf Interpunktion vermeidet Tucholsky Unterbrechungen und übersetzt das simultane Stimmengewirr in eine fließende parataktische Reihung der Satzglieder – die auch anders gelesen werden will, als Gleichzeitigkeit oder zumindest Überschneidung. Man denke an die poetologischen Reflexionen der literarischen Avantgarden, so etwa bei Gertrude Stein, die von Interpunktion möglichst wenig Gebrauch machte (Poetry and Grammar, 1935).
Dosenobst? Aller Wahrscheinlichkeit nach war der bei »Lisa« gereichte Obstsalat ein sirupgetränkter Fruchtcocktail aus der Dose oder dem Weckglas. Während heutzutage so gut wie alle Obstsorten durch kühle Lagerung oder Import das ganze Jahr über erhältlich sind, waren Früchte in den 1920er-Jahren Lebensmittel, die vorrangig zu den Erntezeiten eine Bedeutung für die Alltagskost hatten. Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen dominierten das Angebot, Südfrüchte dagegen besaßen nur eine geringe Bedeutung. Gleich mehrere Sorten zum Obstsalat zu kombinieren, ließ die eingeschränkte saisonale Verfügbarkeit gar nicht zu. Zwar wurden aus Lagerhäusern nach und nach Kühlhäuser und spezialisierte Frachtschiffe erleichterten den Transport von tropischen Früchten über weite Strecken, doch um preiswert und einigermaßen gesund durch den Winter und Frühling zu kommen, war häusliches Konservieren notwendig. Die anfallenden Ernten von Gärten und Feldern im Rhythmus der Jahreszeiten zu Vorräten zu verarbeiten war mühselig, das Ergebnis von Pökeln und Räuchern, Einkochen und Einkellern, Dörren und Einlegen in Essig nicht immer schmackhaft. Vitamine waren noch nicht bekannt, die Vitaminforschung kam in den 1920er-Jahren gerade erst so richtig in Gang. In den bürgerlichen und bäuerlichen Haushalten ging es bei der Vorratshaltung nicht um eine abwechslungsreiche Küche, sondern um eine Beikost zur Variation der relativ gleichförmigen, vorrangig auf Getreide und Kartoffeln basierenden Mahlzeiten. Beim Historiker Uwe Spiekermann (siehe Literaturangaben unten) ist genauer nachzulesen, wie sich durch die Erfindung von Weckglas, der Einführung von Einkochverfahren auf Grundlage der neu entwickelten Hitzesterilisierung und dem Aufkommen der Dosen- und Büchsenkonservierung das häusliche Verhalten veränderte und zugleich auch eine entsprechende (fisch-, fleisch-, gemüse-, obst-)verarbeitende Konservenindustrie entstand. Interessant sind die von ihm genannten Zahlen: »Während der 1920er-Jahre wurden jährlich immerhin 30.000 Büchsenverschlussmaschinen verkauft, 1930 kauften Privathaushalte rund 27 Millionen leere Blechbüchsen, die in der Regel zweimal gefüllt wurden.« Dass der Obstsalat von »Lisa« ein US-Import gewesen sein könnte, ist dagegen unwahrscheinlich, denn die Barron-Gray Packing Company aus Kalifornien stellte den Fruit Cocktail, als dessen Erfinder sie sich bezeichnet, erstmals 1930 her. Ab den 1940er-Jahren erfreute er sich als Konserve größter Beliebtheit.
Textquelle: http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1930/Das+Stimmengewirr
Nachzulesen in:
Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 143–144.
Weiterlesen bei Uwe Spiekermann:
Glas in den häuslichen Alltag! Konservieren und Einkochen bis zum Zweiten Weltkrieg
Weiterlesen über Salat in der Literatur:
in Grimms Märchen bei E.T.A. Hoffmann bei Jean de La Fontaine bei Heinrich Mann bei Erich Mühsam bei Marcel Proust bei François Rabelais bei Emile Zola