TYPOTRAVELETTE UNTERWEGS: BUCHSTABENMALER IN PARIS
Schriftzeichen der Stadt: Jede Stadt hat ihre ganz eigene urbane Typografie. Ob klein und fein oder auffällig-großmaßstäblich: Beschriftungen am Bau und im öffentlichen Raum prägen das städtische Umfeld. In Paris war lange die Schriftmalerei die beste und einfachste Möglichkeit, Ladenbeschriftungen und Fassadenwerbung zu gestalten – auf den ohnehin lackierten Holzfassaden und auf den Schaufenstern ließ sich Farbe leicht aufbringen, aber auch auf den Brandmauern erschienen ganze Schriftzüge. Der »peintre en lettres« (Buchstabenmaler) war ein Ausbildungsberuf, der Wissen über verschiedene Techniken und Material erforderte sowie das Know-how, die Typo in deutlich größerer Dimension zu gestalten. Ein guter Schriftmaler war in der Lage, eine große Bandbreite unterschiedlichster Schriftstile anzubieten, mit geraden, kursiven oder geschwungenen Buchstaben, ein- oder mehrfarbig, mit Schatten oder Ornamenten, bis hin zu illustrativ gestalteten Lettern. Alte Fotografien zeigen fast gänzlich von Schrift »überwucherte« Fassaden, und auch die Künstler des 19. Jahrhunderts ließen sich vom ästhetischen Reiz der »Schriftbilder« für kommerzielle Zwecke verzaubern – so zeigt ein pointillistisches Gemälde von Maximilien Luce aus dem Jahr 1889/90 nicht nur das Menschengewimmel in der »Rue Mouffetard«, sondern auch die großformatigen Werbeschriftzüge an den Häusern.
Beruf: Buchstabenmaler! Während in anderen Metropolen Leuchtschrift und Plastik, Metall und Klebefolien gebräuchlich wurden, blieb die Schilder- und Buchstabenmalerei in Frankreich noch lange populär. Das Magazin »ParisZigZag« porträtierte einen der letzten Buchstabenmaler von Paris, der Mitte der 1950er-Jahre im Alter von 15 Jahren mit der Lehre begann und seinen Beruf inzwischen schon über 65 Jahre ausübt. Außer Schaufenstern und »ardoises«, den Schiefertafeln in den Restaurants, beschrifte er früher auch Lieferwagen (als letztes Foto ein Beispiel – der Transporter eines Metzgers). Heute kann ein »CAP Signalétique et décors graphiques« angestrebt werden, vergleichbar einem Diplom als Kommunikationsdesigner. Beruflich landen die Absolventen allerdings meist vor einem Computer. Tatsächlich aber haben dank Retro-Trend einige »Typografen« das Handwerk und den fast ausgestorbenen Beruf wiederbelebt. 2018 neu eröffnet hat Anne-Lise Blanchet ihr »Post Scriptum« in Ornans, die in einem Interview erzählt, wie sie arbeitet: Als Schablone entsteht mithilfe eines Schneiderkopierrädchens eine Papiervorlage mit Löchern, durch die die Umrisse der Buchstaben übertragen werden. Diese werden anschließend mit Kreide nachgezogen. Für den Farbauftrag wird ein »Schrägpinsel« oder Malerpinsel mit Marderhaar gewählt. Wie diese Arbeit aussieht, zeigen auch die Fotos im Online-Magazin »Nomades« zum Interview mit Buchstabenmaler Julien Raoult. Seiner Meinung nach trug auch der Film »Sign Painters« (aus dem Jahr 2013, Trailer auf Vimeo zu sehen) von Faythe Levine und Sam Macon zur Wiederbelebung des Berufs »peintre en lettres« in Frankreich bei. Zu dieser Zeit habe es in ganz Frankreich so um die 20 Buchstabenmaler gegeben, doch seit Handwerk, Vintage und Selbstgemachtes wieder im Trend sind, bevorzugen auch wieder mehr Ladenbesitzer handbemalte Schaufenster gegenüber den standardisierten Klebebuchstaben und Computerschriften. Auf Instagram und seiner Website »6lettres« sind schöne Beispiele seiner Arbeiten aus Paris zu sehen, darunter auch viel Schrift in Gold. Ein weiterer Buchstabenmaler ist Jean-Michel Drolon mit »Lettres & Pigments«.
Belles lettres: Beim Lettering der Buchstabenmaler ist jede typografische Gestaltung spezifisch und individuell. Bevorzugt kommen serifenbetonte Versalien zum Einsatz, gern mit glamourösen Füßen und dekorativen Verzierungen (Serifenschriften sind nach den Endstrichen am oberen und unteren Ende der Buchstaben benannt). Nicht minder beliebt sind Schatten, die der Schrift die Illusion von Tiefe verleihen. Moderne Beispiele wie die Papeterie »Papier +« oder die Weinhandlung »Des Mets Des Vins« setzen dagegen auf minimalistische Ästhetik und den Farbkontrast zur Holzfassade.
Typografie überall! Eine ganze Schriften- und Schilderwelt tut sich für alle die auf, die die Augen offen halten. Schriftzüge und Buchstaben sind allgegenwärtig und prägen Orte auf subtile und doch eindrückliche Weise. Wer durch Frankreichs Städte oder Dörfer streift, wandert durch Jahrhunderte des geschriebenen Worts. In den Straßen, auf Verkehrsmitteln, Ladenschildern, den Fassaden von Cafés und Restaurants, auf Mauern und Werbeplakaten: Jede Stadt hat ihre ganz eigene urbane Typografie. Selbst in Metropolen wie Paris, wo klassizistische Gemäuer auf immer mehr reflektierende Glasfassaden treffen, vermischen sich verblasste oder verwitterte Schriftzüge, Leuchtreklamen mit Kultstatus und Mosaikschriften, historische Stadttypografie, traditionelle Restaurant- und Ladeninschriften mit urbaner Streetart und Graffiti, Neon-Zeichen und Werbeplakaten, modernen Markensignets und Leitsystemen zur Orientierung oder Texttafeln. Die Typografie im Stadtbild spiegelt die Geschichte Frankreichs auf eine ganz eigene Art wider und vereint dabei nostalgischen Retro-Charme mit stetem Wandel. Jeder Schriftzug erzählt dabei eine Geschichte, lässt Epochen und Moden erkennen. Leider immer seltener: Durch das Verschwinden älterer Buchstaben und Beschilderungen aus dem Stadtraum gehen auch Erinnerungen verloren… Schriftzüge verschwinden nicht nur aus dem Blick, sondern auch aus unserem Bewusstsein. Und durch den wirtschaftlichen Erfolg internationaler Konzerne und Ketten sind leider in immer mehr Städten nur dieselben Schriftzüge und Logos zu sehen.