TYPOTRAVELETTE UNTERWEGS: HANDWERK? VERSCHWUNDEN!

Kontinuität und Wandel: Wo früher kleine Handwerksbetriebe den Anwohnern ihre Dienste anboten und Krämerläden für die Versorgung des Viertels sorgten, lockt heute immer häufiger der Kommerz. An der einen Fassade steht Boulangerie, doch drinnen residiert hinter dem Bäckereischild ein von Modedesigner Christian Lacroix ausgestattetes Hotel. In der Schlosserei in einer abgelegenen Passage stellt eine Galerie Gegenwartskunst aus, beim Messer- und Goldschmied hängen Markenjeans, und in der einen Schusterwerkstatt kam ein Hipster-Coffeeshop unter, in der nächsten die Weinbar eines Sternerestaurants. Eine weitere Weinbar okkupiert die Räume einer Spazierstock- und Schirmmanufaktur. Der Soziologe Richard Sennett weist darauf hin, dass Gentrifizierung weit mehr ist »als die Kolonisierung pittoresker Viertel durch trendige Künstler, denen trendige Medienleute folgen, welche wiederum pickelige IT-Millionäre anziehen« (Richard Sennett, Die offene Stadt), sondern ein fundamentaler Prozess, der 70 bis 75 Prozent der städtischen Bevölkerung durch die wohlhabende Minderheit verdrängt.

Das verschwundene Paris: So schön die alten verblassten Schriftzüge sind, sie sind Überbleibsel aus einer anderen Zeit, stimmen auch melancholisch und wehmütig. Denn selbst wenn »Cordonnerie«, »Imprimerie« oder »Serrurerie« stehen bleibt, immer ziehen in das Ladenlokal eines Schusters, einer Druckerei oder einer Schlosserei eine Boutique oder ein Esslokal ein, ob nun Bio-Imbiss, Hamburgerbraterei oder Neo-Bistrot. Alte Cafés weichen Fastfood-Ketten, in die aufgegebenen Läden und Handwerksbetriebe ziehen internationale Modefilialisten und Co-Working-Spaces ein. Mit den Handwerkern verschwindet die alteingesessene Bevölkerung, die sich die astronomisch hohen Mieten und Immobilienpreise auch zum Wohnen nicht mehr leisten kann. Paris ist teuer – und wird alljährlich noch teurer.

Typografie überall! Eine ganze Schriften- und Schilderwelt tut sich für alle die auf, die die Augen offen halten. Schriftzüge und Buchstaben sind allgegenwärtig und prägen Orte auf subtile und doch eindrückliche Weise. Wer durch Frankreichs Städte oder Dörfer streift, wandert durch Jahrhunderte des geschriebenen Worts. In den Straßen, auf Verkehrsmitteln, Ladenschildern, den Fassaden von Cafés und Restaurants, auf Mauern und Werbeplakaten: Jede Stadt hat ihre ganz eigene urbane Typografie. Selbst in Metropolen wie Paris, wo klassizistische Gemäuer auf immer mehr reflektierende Glasfassaden treffen, vermischen sich verblasste oder verwitterte Schriftzüge, Leuchtreklamen mit Kultstatus und Mosaikschriften, historische Stadttypografie, traditionelle Restaurant- und Ladeninschriften mit urbaner Streetart und Graffiti, Neon-Zeichen und Werbeplakaten, modernen Markensignets und Leitsystemen zur Orientierung oder Texttafeln. Die Typografie im Stadtbild spiegelt die Geschichte Frankreichs auf eine ganz eigene Art wider und vereint dabei nostalgischen Retro-Charme mit stetem Wandel – jeder Schriftzug erzählt dabei eine Geschichte, lässt Epochen und Moden erkennen. In Deutschland leider immer seltener: Durch das Verschwinden älterer Buchstaben und Beschilderungen aus dem Stadtraum gehen auch Erinnerungen verloren… Schriftzüge verschwinden nicht nur aus dem Blick, sondern auch aus unserem Bewusstsein. Und durch den wirtschaftlichen Erfolg internationaler Konzerne und Ketten sind leider in immer mehr Städten nur dieselben Schriftzüge und Logos zu sehen: Die industrielle Typisierung unseres Alltags erzeugt »ein visuelles Klima der Austauschbarkeit« (Ulysses Volker: read + play).

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