TYPOTRAVELETTE UNTERWEGS: PARISER FASSADEN 1

Überbleibsel aus einer anderen Zeit: Was bei Drucksachen als klassischer Typografiefehler gilt, wirkt in Paris an eigenwillig beschrifteten Laden- und Restaurantfassaden durchaus charmant: Viele unterschiedliche Schriften, kaum Freiraum, fast werden die Buchstaben zum Fassadenornament. Aber es geht ja nicht in erster Linie um Lesbarkeit, sondern um Aufmerksamkeit und Außenwerbung. Nur mehr ist mehr! Speisekarte, Produkte oder Serviceangebote werden übergroß an die frische Luft gesetzt – wir sehen, was wir bekommen. Und nur Texte werden linear in Zeilen gelesen – wo Schrift auf Architektur trifft, gilt das nicht: ein Gebäude gibt keine Leserichtung vor. Solche lesbaren Fassaden fallen auf, sie prägen Paris genauso wie die Architektur. Unterschiedliche Städte haben ihre eigene typografische Identität, doch wer historische Aufnahmen von Ladengeschäften in Berlin, Köln oder München von Anfang des 20. Jahrhunderts gesehen hat, wird sich erinnern, dass auch deren Inhaber sich gern mit vielerlei Schrift und Schildern den Kunden präsentierten.

Schrift am Bau: Direkt auf die Fassade aufgebrachte »Schriftenmalerei« oder in das Gebäude integrierte Beschriftungen – also nicht als Schild oder Einzelbuchstaben der Fassade vorgesetzte Elemente – lohnen sich nur, wenn man lange bleiben kann… Im internationalen Vergleich hat Paris noch viele alte Schriftzüge, aber auch hier verschwinden sie, und die überbordenden Beispiele kommen nur noch vereinzelt vor. Die 1761 eröffnete Chocolaterie und Confiserie »La Mère de famille« nutzt die Optik der denkmalgeschützten Fassade fürs Marketing, die vielen kleinen Filialen in den Stadtvierteln imitieren (mehr schlecht als recht) die nostalgische Anmutung des Originals in der Rue du Faubourg Montmartre (die neueren nicht mal mehr die alte Typo). Mit dem wirtschaftlichen Wandel und dem immer häufigeren Wechsel durch andere Nutzung haben sich fest integrierte Varianten der architekturbezogenen Beschriftung überlebt – wie in den Stein eingemeißelte Schriften oder eingelassene Mosaike auch solche aufwendigen, nur mit Aufwand zu entfernenden Schriftzüge. Für die Ladenbeschriftung der Chocolaterie entschied man sich für die Technik der Hinterglasmalerei. Dabei werden Firmennamen oder werbliche Angaben seitenverkehrt auf die Rückseite von Glasscheiben aufgetragen und anschließend mit einer dunklen Konstrastfarbe abgedeckt. Flach oder leicht schräg konnten diese Glasscheiben dann oberhalb oder neben Schaufenstern und Eingang montiert werden.

Typografie überall! Eine ganze Schriften- und Schilderwelt tut sich für alle die auf, die die Augen offen halten. Schriftzüge und Buchstaben sind allgegenwärtig und prägen Orte auf subtile und doch eindrückliche Weise. Wer durch Frankreichs Städte oder Dörfer streift, wandert durch Jahrhunderte des geschriebenen Worts. In den Straßen, auf Verkehrsmitteln, Ladenschildern, den Fassaden von Cafés und Restaurants, auf Mauern und Werbeplakaten: Jede Stadt hat ihre ganz eigene urbane Typografie. Selbst in Metropolen wie Paris, wo klassizistische Gemäuer auf immer mehr reflektierende Glasfassaden treffen, vermischen sich verblasste oder verwitterte Schriftzüge, Leuchtreklamen mit Kultstatus, historische Mosaikschriften, traditionelle Restaurant- und Ladeninschriften mit urbaner Streetart und Graffiti, Neon-Zeichen und Werbeplakaten, mit Kreide beschrifteten Schaufenstern und Leitsystemen zur Orientierung. Die Typografie im Stadtbild spiegelt die Geschichte Frankreichs auf eine ganz eigene Art wider und vereint dabei nostalgischen Retro-Charme mit stetem Wandel. Jeder Schriftzug erzählt dabei eine Geschichte, lässt Epochen und Moden erkennen. Wenn auch immer seltener: Durch das Verschwinden älterer Buchstaben und Beschilderungen aus dem Stadtraum gehen auch Erinnerungen verloren… Schriftzüge verschwinden nicht nur aus dem Blick, sondern auch aus unserem Bewusstsein. Und durch den wirtschaftlichen Erfolg internationaler Konzerne und Ketten sind leider in immer mehr Städten nur dieselben Schriftzüge und Logos zu sehen.

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