TYPOTRAVELETTE UNTERWEGS: MOSAIKSCHRIFT IN PARIS UND BORDEAUX
Mosaik: 1000 und mehr bunte Steinchen für einen Schriftzug, das ist schon sehr aufwendig für eine Fassenbeschriftung oder einen Bodenbelag. Mosaikkunst im öffentlichen Raum, ob als Bestandteil der Fassadengestaltung oder als architektonisches Element in Innenräumen, tritt in der Gegenwart meist als »Kunst am Bau« auf, nicht als »Beschilderung«. Institutionen wie die Mosaikbauschule Dortmund, die Scuola Studi d’Arte del Mosaico oder die Scuola Mosaicisti del Friuli in Italien vermitteln Künstlern das Know-How und die verschiedenen Techniken. Zu den Architekten, die Mosaike einsetzten, gehören etwa Friedrich Hundertwasser und Antoní Gaudi, das größte Marmormosaik der Welt befindet im Innenhof einer Moschee in Abu Dhabi, aber schon die Römer und Griechen der Antike verschönerten ihre Villen und Tempel mit Mosaiken.
Les mosaïstes: Mosaike können aus Natursteinen, Email, Glas oder Keramik hergestellt werden, aus unterschiedlich großen polygonalen Bruchstücken oder Mosaiksteinchen aus Glasfluss, die Smalten genannt werden. Was man in Paris im Straßenbild zu sehen bekommt, sind jedoch keineswegs nur künstlerische Interventionen, sondern funktionale Elemente, in den viel handwerkliches Können steckt. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts entwarfen keineswegs nur Künstler, Typografen oder Architekten Beschriftungen, sondern Handwerker – Schildermaler, Fassadenmaler, Lichtreklamehersteller und Mosaizisten. Doch die alte Kunst des Mosaiklegens ist ein fast verschwundener Handwerksberuf, und seit der Erfindung ganzer Mosaikmatten für die Badgestaltung betätigen sich die »mosaïstes« (Mosaizisten) der Gegenwart vorwiegend als Künstler. In den Fotobeispielen sind qualitative Unterschiede deutlich zu sehen – die eher groben Schriftzüge des Relais Odéon und der namenlosen Epicerie reichen nicht an andere zweifarbige und liebevoller ausgeführte Schriftbilder heran. Man beachte etwa die zierlich-filigrane Schrift von A. Levante mit den feinen schwarzen Akzenten oder die von der Mittellänge abweichenden Querstriche der Versalien A, E und H im Schriftzug »Charonne« oder die übertriebenen Punzen der Boulangerie Florence Kahn im Marais (= die teilweise oder vollständig geschlossenen Innenflächen von Buchstaben). Oder wer hätte gedacht, dass im Mosaik auch Serifenschriften eine Chance haben (Galerie Vivienne)?
Modulare Schrift: In einer Zeit, in der beim Bauen meist vorgefertigte Elemente zum Einsatz kommen, wirken die Mosaike des frühen 20. Jahrhunderts einerseits nostalgisch, andererseits nehmen sie das digitale Prinzip quasi vorweg – jedes Steinchen ein Pixel. Und je kleiner die einzelnen Elemente sind, desto präziser wird das Schriftbild, was auch das Aufmacherbeispiel aus Bordeaux gut zeigt (man beachte die überflüssigen, aber liebevoll ausgeführten Anführungszeichen!). Mosaikschrift begegnet man an Fassaden und sogar auf den Trottoirs von Paris – die Fotobeispiele der Bodenbeläge stammen aus der Galerie Vivienne und der Rue de Rivoli. Die Pariser Passage wurde in den 1820er-Jahren erbaut, das Fußbodenmosaik ist aber deutlich jünger. Am Eingang von der Rue Vivienne hinterließ »G. Facchina, mosaïste de l’Opéra« seine Signatur (Charles Garnier soll als einer der ersten Architekten in Frankreich Mosaike für die Oper in Auftrag gegeben haben). Das moderne Beispiel, die Mosaikfassade des Kinderschuhladens Pom d’Api, schufen 2002 Chantal und Didier Roy. Hinter der leuchtend-roten Mosaikfassade der Pferdemetzgerei in der Rue du Roi de Sicile im Marais ist schon lange eine Boutique eingezogen. Dass die Rue des Petits Carreaux ausgerechnet »Straße der kleinen Kacheln (oder Fliesen)« heißt, ist eine schöne Pointe, aber kein absichtlicher Gag, denn beispielsweise auch die Rue Réaumur gibt es im Steinchenlook. Und dass auch Street-Art auf Mosaiksteinchen verfällt, lässt hoffen… Alle Fotos wurden in Paris aufgenommen, bis auf das Aufmacherfoto (nahe dem Marché des Capucins in Bordeaux) und das Art-Déco-Schwimmbad im Stadtteil Bègles, ebenfalls Bordeaux.
Typografie überall! Schriften und Beschilderungen sind allgegenwärtig und prägen Orte auf subtile und doch eindrückliche Weise. Wer durch Frankreichs Städte oder Dörfer streift, wandert durch Jahrhunderte des geschriebenen Worts. In den Straßen, auf Verkehrsmitteln, Ladenschildern, den Fassaden von Cafés und Restaurants, auf Mauern und Werbeplakaten: Jede Stadt hat ihre ganz eigene urbane Typografie. Selbst in Metropolen wie Paris, wo klassizistische Gemäuer auf immer mehr reflektierende Glasfassaden treffen, vermischen sich verblasste oder verwitterte Schriftzüge, Leuchtreklamen mit Kultstatus, historische Stadttypografie, traditionelle Restaurant- und Ladeninschriften mit urbaner Streetart und Graffiti, Neon-Zeichen und Werbeplakaten, modernen Markensignets und Leitsystemen zur Orientierung oder Texttafeln. Die Typografie im Stadtbild spiegelt die Geschichte Frankreichs auf eine ganz eigene Art wider und vereint dabei nostalgischen Retro-Charme mit stetem Wandel. Jeder Schriftzug erzählt dabei eine Geschichte, lässt Epochen und Moden erkennen. Leider immer seltener: Durch das Verschwinden älterer Buchstaben und Beschilderungen aus dem Stadtbild gehen auch Erinnerungen verloren… Schriftzüge verschwinden nicht nur aus dem Blick, sondern auch aus unserem Bewusstsein. Und durch den wirtschaftlichen Erfolg großer Konzerne und Ketten sind leider in immer mehr Städten nur dieselben Schriftzüge und Logos zu sehen.