TYPOTRAVELETTE UNTERWEGS: BUCHSTABENFASSADE IN MARSEILLE
Les Docks: Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Speicherhäuser in Marseille errichtet wurden, war der Gebäudekomplex das drittgrößte Bauprojekt Frankreichs. Noch heute beeindruckt die Front parallel zu den Hafenkais, allein schon durch ihre Länge von fast 400 Metern. Der Gesamtkomplex besteht aus mehreren sechsgeschossigen Lagerhäusern mit vier Innenhöfen, vielen Ein- und Ausgängen und einer zentralen »Fußgängerstraße« als urbane Längsachse mit Läden und Lokalen. Jeder Innenhof ist anders gestaltet, der eine ist mit fast 1000 blauen Kacheln in verschiedenen Tönen ausgekleidet, ein anderer mit grünen Rankpflanzen. Den Wettbewerb für die Umgestaltung dieser ebenerdigen Bereiche in den bereits sanierten Docks gewann das italienische Architekturbüro 5+1AA (Alfonso Femia und Gianluca Peluffo, inzwischen umbenannt in Atelier Femia, das seit 2018 auch den Umbau der J1-Halle gegenüber plant) mit Sitz in Genua, Mailand und seit 2007 in Paris.
Silbernes Schriftgitter: Für eine der schmalen Seiten des Gebäudekomplexes entwarfen die Architekten – unter Mitarbeit der venezianischen Agentur Tapiro-Design – eine vorgehängte monumentale Metallfassade, die sie in kleinerem Maßstab schon bei einer Villa in Ligurien verwirklicht hatten. Zweitverwertung einer Idee also, die ausgestanzten Buchstaben bilden nun eine stimmungsvolle »literarische Fassade« zur Place de la Méditerranée hin. Die transparente, mehr als 30 Meter hohe Metallkonstruktion mit der überdimensionalen Beschriftung »Les Docks« setzt sich aus mehr als 700 Textauszügen zusammen, von Autoren wie Balzac, Camus, Casanova, Conrad, Dumas, Giono, Londres, Stendhal, die Marseille literarisch verewigt oder die Stadt einfach nur kennengelernt haben … Die zweidimensionale Schrift ist so mehr als nur ornamental-gestalterisches Element, weil das Konzept für die Architektur Bezug auf den Ort nimmt. Hinter der vorgehängten Fassade führt eine Treppe hinauf – von der obersten Etage blickt man auf das Viertel La Joliette und die Hafenfront.
Schrift am Bau: Bislang ging es in den Typografie-Beiträgen hier im Blog oft um den nostalgischen Retro-Charme älterer Buchstaben und Beschilderungen, etwa bei der Fassadengestaltung mit Schrift in seiner üppig wuchernden historischen Form in Paris. Durch ihr Verschwinden aus dem Stadtraum gehen auch Erinnerungen verloren… Doch so schön die alten Schriftzüge sind, sie sind Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Moderne Beispiele sind besonders interessant, wenn die Typografie direkten Bezug nimmt – etwa als Leitsystem im Innern des Bauwerks oder als plastische, fast skulpturale Schrift als Hinweis auf dessen Funktion. Oder wenn Experimente mit der Typografie, mit Materialien oder der Technik (wie hier dem gestanzten Aluminium) zur Vielfalt beitragen. Und bei »ausbuchstabierter« Kunst im öffentlichen Raum.
Bildschirm-Bauten: Dagegen möge der Trend zur architektonischen Discokugel an uns vorbeigehen! Seit in Las Vegas mit der kugelförmigen »Sphere« eine spektakuläre Eventhalle eröffnete, deren 54.000 Quadratmeter große Gebäudehülle aus einem überdimensionalen LED-Bildschirm besteht, möchten auch London und andere Städte sowie große Unternehmen »Medienfassaden«. So wird Architektur zur bloßen Projektionsfläche. Mega-Displays überlagern die Architektur – auch die omnipräsenten dreidimensionalen Schriften und Leuchtreklamen an Gebäuden stören oft die visuelle Erscheinung eher als dass Typografie und Architektur eine harmonische Verbindung eingehen. Weil durch den globalisierten Erfolg internationaler Konzerne und Ketten leider in immer mehr Städten nur dieselben Schriftzüge und Logos zu sehen sind, freut Typografiefans wie mich jede individuelle Gestaltung um so mehr.
Lettern-Liebe: Eine ganze Schriftenwelt tut sich für alle die auf, die die Augen offen halten. Schriftzüge und Buchstaben sind allgegenwärtig und prägen Frankreichs Städte oder Dörfer – auf den Fassaden von Cafés und Restaurants, auf Mauern und Wegweisern. Verblasste oder verwitterte Schriftzüge treffen auf Leuchtreklamen und Neon-Zeichen, historische Stadttypografie auf moderne Markensignets und Leitsysteme zur Orientierung, traditionelle Ladenschilder auf urbane Street-Art und Graffiti.