SYLVIE SCHENK: MAMAN

Mütter und Töchter: In ihrem Roman begibt sich Sylvie Schenk auf Spurensuche im Leben ihrer verstorbenen Mutter – Renée Gagnieux, 1916 in Lyon geboren, kommt als Waise erst in ein Heim, dann in eine Pflegefamilie, in der das kleine Mädchen mutmaßlich schlechte Erfahrungen macht. Als sie mit sechs Jahren von einer liebevollen Familie adoptiert wird, ist es schon zu spät. Das stille und eingeschüchterte Kind hat zu lange keine Liebe erfahren und bleibt, passiv und verschlossen, freundlich, aber freudlos. Renée bekommt als Erwachsene zwar fünf Kinder, darunter vier Töchter, findet aber keinen emotionalen Zugang, tauscht weder Zärtlichkeiten aus noch spielt, lacht oder liest sie mit den Kindern. »Sie schwieg viel. Ich habe nie gewusst, ob sie nachdachte, träumte, sich erinnerte oder Pläne schmiedete.«

Armut im Arbeiterinnenmilieu: Über ihre Herkunft wird geschwiegen, die dünkelhafte »schreckliche Familie« des Vaters stempelt die Mutter nicht nur als Idiotin ab, sie setzt auch bösartige Gerüchte über die ungewisse Abstammung des Adoptivkinds in die Welt. Sylvie Schenk versucht die Lücken zu füllen, geht mageren Angaben in Akten nach – die Herkunft der Mutter ist der »weiße Elefant« in der Familiengeschichte. Kam sie nun als Tochter einer Seidenarbeiterin mit unbekanntem Vater zur Welt? Oder musste die ledige, schon 45-jährige Cécile Gagnieux sich prostituieren, weil es anders nicht zum Überleben reichte? Im Ersten Weltkrieg schon gar nicht? Keine »Wäschefrau, Dienstmädchen, Munitionsfabrikarbeiterin ohne Mann [konnte] ihre Kinder mit ihrem Hungerlohn ernähren, der nur die Hälfte des ohnehin miserablen Männerlohns betrug«. Das ist ein Vorzug dieser Art autobiografischen Schreibens: »Auch und gerade die kleinen Leute, Menschen, die sonst am Rand der bedeutenden Ereignisse der Weltgeschichte stehen, werden darin zum Thema«, schreibt Marie Schmidt in einem Essay zur autofiktionalen Literatur in der Süddeutschen Zeitung. Zum Beispiel »Mütter der unteren Schichten, die mit Lohnarbeit und Sorge um die Familie zu beschäftigt waren, um groß Geschichten von sich zu erzählen« (8.12.2023).

Makel der Geburt: Die Mutter gibt die »Angst vor der Schande« weiter an ihre vier Töchter, »bitte, bitte nicht unverheiratet schwanger werden«, kein uneheliches Kind in die Welt setzen. Es kommt, wie es kommen muss, Aline, schon schwanger bei der Hochzeit, wird kurz nach der Geburt von ihrem Mann verlassen, Pauline, eine weitere Schwester, wird aus dem Elternhaus geworfen und darf bei Besuchen ihr Kind nicht mitbringen, und auch aus Lisa, der Jüngsten, wird eine alleinerziehende Mutter. Ein roter Faden der Erzählung dreht sich um uneheliche Kinder und Väter, die sich aus der Verantwortung stehlen, um Herkunft, Hochzeitsfotos und schwierige Ehen, Scham und Sprachlosigkeit. Denn letztlich reichte »die bürgerliche Ordnung wie die patriarchale Haltung« der Epoche »bis zur Erfindung der Pille«, die Frauen nicht mehr in die ungewollte ledige Mutterschaft treibt.

Autofiktionale Literatur: Als zeitgenössische Literaturgattung ist autofiktionales Erzählen gerade im Trend, Buchverlage publizieren Memoirs, Ich-Geschichten und Familienporträts in großer Zahl. Zu dieser Art Betroffenheitsprosa zählt »Maman« nicht, Sylvie Schenk nähert sich höchst reflektiert und literarisch ihrem Thema und dem Verhältnis von Fiktion und Realität: Auf dem Umschlag steht als Gattungsbezeichnung »Roman«. Mir ist ohnehin egal, ob die Autorin eine echte oder eine erfundene Geschichte erzählt. »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält«, schrieb Max Frisch in »Mein Name sei Gantenbein«. Es ist also nicht nur eine Erkenntnis der Gedächtnisforschung, dass das Erinnern und das Erzählen davon aus Umdichten, Weglassen, Verändern besteht. Selbst die scheinbar so objektive Geschichtswissenschaft musste zugeben, dass es eine definitive, wahre, reale Historie nicht gibt, sondern nur den (interpretierenden) Blick auf Vergangenes.

Lesetipp: Dass Sylvie Schenk immer noch ein Geheimtipp ist, finde ich höchst bedauerlich. Das erste Buch der in Frankreich geborenen Autorin, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und auf Deutsch schreibt, habe ich 1995 gekauft, damals schrieb die Autorin noch unter ihrem Geburtsnamen Sylvie Gonsolin und der Roman »Hin und Her« erschien bei Bruckner & Thünker. Den kleinen Verlag mit Sitz in Köln und Basel (aus dessen Programm ich auch eine umfangreiche Boris-Vian-Biografie sehr schätze sowie »Gare du Nord« von Malika Wagner) gibt es schon lange nicht mehr. Einige weitere Bücher von Sylvie Schenk erschienen im Picus Verlag und bei Klett-Cotta. Solche Verlagswechsel, egal ob freiwillig oder unfreiwillig, tun einer Autorinnenkarriere selten gut, denn schon einmal aufgelegte Bücher werden selten in einem anderen Haus neu gesetzt und nachgedruckt – als Novität lassen sie sich ja im Buchhandel nicht mehr anbieten, auch Literaturredaktionen werden sie kaum besprechen – fatal für die Backlist. Damit gute Bücher auch erfolgreich werden, hilft ein renommierter Verlag enorm. Dass Sylvie Schenks Bücher inzwischen bei Hanser erscheinen, ist ein gutes Zeichen, ebenso dass der Roman auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023 stand. Denn wie ihre ungleich berühmtere Kollegin Annie Ernaux ist Sylvie Schenk eine Meisterin des autobiografischen Schreibens (nicht erst mit diesem Roman, etwa auch mit »Schnell, dein Leben« von 2016, ebenfalls im Hanser Verlag erschienen, als Taschenbuch bei Goldmann).

 

www.sylvie-schenk.com

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