PARIS STRASSENWEISE: RUE MONTMARTRE

Das Zeitungsviertel: Mehr als ein Jahrhundert lang war das Quartier um die Rue Montmartre das Reich der Tageszeitungen mitsamt ihrer Druckereien. In Nummer 83 entstand seit den 1980er-Jahren das Figaro-Magazine, die Tageszeitung selbst hatte ab 1975 drei Jahrzehnte lang ihre Redaktionsräume in einem Art-Déco-Gebäude am heute nach drei Journalisten benannten Plätzchen. In Nummer 138–142 residierte eine Zeitlang die der Linken nahestehende L’Humanité, die einige Jahre nach der Gründung zum offiziellen Parteiorgan der Sozialisten, später der kommunistischen Partei Frankreichs wurde. Mit Nummer 144 (zuvor in 123) ließ sich das 1862 gegründete und 1937 eingestellte Abendblatt La France ein prächtiges Domizil erbauen – die Atlanten und Karyatiden an der Fassade stellen den Journalismus und die Typografie dar. In den Lokalen der Straße trafen sich die Journalisten mit Kollegen. In seinem 1936 erschienenen Roman »Les Beaux Quartiers« schreibt Louis Aragon, die ganze Gegend rieche nach feuchtem Papier und das Rattern der Rotationsmaschinen erschüttere die Häuser. In den benachbarten Straßen wie Rue Réaumur oder Rue du Croissant waren weitere Zeitungen ansässig. Doch wegen der enormen Preissteigerungen bei Immobilien und Mieten gaben viele Redaktionen, die zudem unter Anzeigenrückgang und Auflagenschwund litten, schon vor Jahren ihre zentralen Stammhäuser auf und bezogen (von den Mitarbeitern ungeliebte) Büros am Stadtrand.

Sehenswert: Die Rue Montmartre beginnt an der Kirche Saint-Eustache und dem Standort der ehemaligen Markthallen. Eine Weile verläuft sie parallel zur Rue Montorgueil und endet nach knapp einem Kilometer an den Grands Boulevards. Ihre Fortsetzung, die Rue du Faubourg Montmartre hinauf zum gleichnamigen Hügel im Norden der Hauptstadt, erinnert daran, dass der erst 1860 eingemeindete Montmartre lange außerhalb der Stadtgrenze lag (faubourg = Vorort). Das Gebäude mit der Nummer 136 namens »Hôtel de Mantoue«, wohl um 1820 erbaut, besitzt eine für Paris recht ungewöhnliche Fassade, die acht unterschiedlich gestaltete Nischen mit Statuen und in der obersten Etage zwei Medaillons aufweist. Von Nummer 151 geht es in einen Seitengang der Passage des Panoramas, eine der ältesten glasüberdachten Ladenpassagen in Paris.

Einkaufen: Wer spezielle Patisserie-Förmchen, Kupfertöpfe oder Gusseisenbräter sucht, wird in der Rue Montmartre fündig. Mit Mora, A. Simon und TOC (früher La Bovida) in Nummer 13, 36 und 48 stehen gleich drei Fachgeschäfte mit Küchenutensilien und Haushaltswaren bereit. Anregung für Hobbyköchinnen bietet außerdem die Librairie Gourmande, eine auf Koch- und Backbücher spezialisierte Buchhandlung in Nummer 92–96.

Einkehren: Bis vor einigen Jahren war das Comptoir de la Gastronomie in der Nummer 34 noch eine altehrwürdige »épicerie fine«, spezialisiert auf die kulinarischen Produkte Südwestfrankreichs und insbesondere auf Foie Gras. Auch wenn man hier weiterhin noch einkaufen kann, hat sich das einstige Feinkostgeschäft hinter der schönen Ladenfassade inzwischen immer mehr zum Restaurant entwickelt. Auf dessen Speisekarte spielt Foie Gras weiterhin eine große Rolle, als »terrine« oder Carpaccio, im Salat oder in Nudeltaschen. Gleich gegenüber in Nummer 15 hat auch das »Cochon à l’Oreille« seine schöne Fassade und im Innern handbemalte Wandfliesen der Keramikmanufaktur Boulenger bewahrt, die das Markttreiben der historischen Hallen zeigen (beides denkmalgeschützt). Ich gönne meinen müden Füßen nach langem Rumlaufen auf Asphalt gern eine Ruhepause im Café Noir in Nummer 65, das eine angenehme Anlaufstelle für den Apéro ist. Wird der Appetit zu groß, schaffen Schinken- oder Käseteller Abhilfe. An der Ecke zur Rue Réaumur bilden sich vor der Pizzeria Popolare teils lange Warteschlangen für einen Tisch, als wäre die Pizza gerade erst erfunden worden. Die Big Mamma Group ist so erfolgreich mit ihrem Konzept – Zutaten angeblich direkt und täglich frisch aus Italien, Ambiente »instagrammable« bis hin zum völlig überkandidelten Kitsch –, dass die Restaurantkette rasant wächst und längst in Paris und außerhalb Frankreichs unzählige Ableger eröffnete, darunter einen riesigen Food Court, flächenmäßig Europas größtes Restaurant. Dabei ist der Inhaber Monegasse, in Frankreich aufgewachsen und lebt in Spanien. »Hemmungslose kulturelle Aneignung«, schimpft der SPIEGEL. Dass solche System-Gastronomie auch in Paris dazu führt, dass alles immer ähnlicher wird, kennt man ja leider ähnlich schon von den allgegenwärtigen Filialisten beim Einkaufen – überall sehen die Geschäfte gleich aus.

Zwei Geschichten aus der Geschichte… Im Januar 1898 übergab der Schriftsteller Émile Zola seinen Artikel »J’accuse…!« in Nummer 144 an den Herausgeber Georges Clemenceau. »Ich klage an…!« erschien am nächsten Tag in der Tageszeitung L’Aurore als offener Brief an den damaligen Präsidenten Frankreichs. Zola forderte die Freilassung von Alfred Dreyfus und beschuldigte die Beteiligten an dessen Verurteilung der Lüge, des Antisemitismus und der Rechtsbeugung, was für enormes Aufsehen sorgte und Frankreich in zwei Lager spaltete, in »Dreyfusards« und »Anti-Dreyfusards«. Der jüdische Hauptmann war 1894 bezichtigt worden, im Auftrag Deutschlands spioniert und militärische Geheimnisse verraten zu haben, und wurde Opfer einer beispiellosen Verleumdungskampagne. Zola, nun ebenfalls zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, entzog sich der drohenden Verhaftung durch die Flucht nach England. Doch seine mutige öffentliche Meinungsäußerung gegen Machtmissbrauch gab dem politischen Skandal die entscheidende Wende und stürzte die Dritte Republik in ihre schwerste Krise. Erst 1906, nach jahrelangen Auseinandersetzungen, endete die »Affäre Dreyfus« mit der Rehabilitierung des zu Unrecht verurteilten und auf die Teufelsinsel in Französisch-Guyana deportierten Offiziers.

Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 31. Juli 1914, wurde Jean Jaurès im Café du Croissant (Nummer 146) von einem französischen Nationalisten ermordet. Der 1859 geborene Journalist und sozialistische Politiker hatte 1904 die L’Humanité gegründet (und auch er gehörte zu den Verteidigern von Dreyfus). Als überzeugter Pazifist warnte er immer wieder vor der Kriegsgefahr, prangerte Militarismus und Nationalismus an und machte sich mächtige Feinde. Nach Kriegsende wurde sein Mörder freigesprochen und die Gerichtskosten gar der Witwe von Jaurès aufgebürdet. Zehn Jahre später ließ eine neue Regierung die Gebeine »des ersten Toten des Weltkrieges« ins Pantheon überführen, die nationale Ruhmeshalle großer Franzosen, »die größte Ehrung, die dieses Volk zu vergeben hat«, schrieb Kurt Tucholsky 1924 in der Weltbühne, und diese Ehrung gelte »seiner Idee, seinen Idealen und seiner politischen Welt«.

… und eine aus der Gegenwart: Die im ersten Abschnitt erwähnte Placette du Louvre ist seit Mai 2019 nach drei Journalisten benannt, die bei der Arbeit ihr Leben verloren, »mortes et mort pour l’information«. Ghislaine Dupont und Claude Verlon starben 2013 in Mali, wo die Radioreporterin und der Tontechniker erst entführt und dann ermordet wurden. Die Fotoreporterin Camille Lepage kam 2014 in der Zentralafrikanischen Republik ums Leben. Reporters sans Frontières hat dokumentiert, dass weltweit in den letzten zehn Jahren mehr als 900 Journalistinnen und Journalisten bei der Ausübung ihres Berufs getötet wurden.

Paris Rue Montmartre

Paris Rue Montmartre

Paris Rue Montmartre

Paris Saint-Eustache

 

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