PARIS: 100 RUE RÉAUMUR

Art Déco: In den »goldenen« 1920er-Jahren liebte man nicht nur das schnelle Leben, sondern feierte auch die Geschwindigkeit. Und den technischen Fortschritt, der den neuen Rausch möglich machte: Flugzeuge, Ozeandampfer, Schnellzüge, Zeppeline, Sportwagen – all diese Maschinen sorgten für rasende Rekorde und neue Mobilität, machten Atlantiküberquerungen und Weltumrundungen möglich. Ein Zeitalter der Innovationen… Was könnte besser zu einer Zeitung passen – angetreten, um in Windeseile Nachrichten aus aller Welt in alle Welt zu verbreiten? Die großen goldenen Medaillons am schmiedeeisernen Tor in der Rue Réaumur Nr. 100 sind noch erhalten, hergestellt hat sie in den 1920er-Jahren der französische Kunstschmied Edgard Brandt (1880–1960), dessen Pariser Unternehmen auch Metalldekorationen für ein großes Premierenkino an den Champs-Elysées fertigte. Der renommierte und erfolgreiche Künstler erhielt aber nicht nur große Aufträge in seiner Heimat, sondern auch für das Nationaltheater in Mexiko und war an der legendären Innenausstattung des Ozeandampfers Normandie beteiligt. Aufgefallen ist mir allerdings zuerst das schöne Bodenmosaik mit der Inschrift L’Intransigeant.

Der Kompromisslose: Das fast klassizistische Industriegebäude Nr. 100 in der Rue Réaumur wurde für die Pariser Tageszeitung L’Intransigeant von dem Architekten Pierre Sardou (1873–1952) entworfen. L’Intransigeant, schon 1880 gegründet, vertrat anfangs linke Positionen, wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert unter neuer Leitung aber zu einer nationalistischen und rechten Pressestimme und entwickelte sich zu Frankreichs auflagenstärkster konservativer Zeitung: 1920 wurden täglich um die 400.000 Exemplare gedruckt. Nach Kriegsbeginn musste das Blatt im Juni 1940 sein Erscheinen einstellen. Von den deutschen Besatzern wurde nicht nur das Gebäude requiriert, die Propagandastelle installierte dort auch die Pariser Zeitung. Nach Kriegsende diente das Gebäude eine Zeitlang einigen aus der Résistance hervorgegangenen Zeitungen als Redaktionssitz – Défense de la France, Franc-Tireur und Combat, bis schließlich France-Soir aus ersterer wurde und diese für vier Jahrzehnte in der Rue Réaumur blieb.

France-Soir: Pierre Lazareff (1907–1972) war ein einflussreicher Mann und wahrscheinlich der umtriebigste Verleger der Nachkriegsära. France-Soir leitete er bis zu seinem Tod im Jahr 1972, in der Rue Réaumur dirigierte er, unterstützt von sechs Sekretären, mehr als 400 Mitarbeiter allein in der Redaktion. Übrigens hieß »Zeitung machen« damals, dass auch im selben Haus gedruckt wurde, die enormen Mengen an Papierrollen lieferten Lastwagen an der anderen Seite des Gebäudes an, in der Rue des Forges. An der Fassade zur Rue Réaumur zeigen Halbreliefs des Bildhauers Henri-Edouard Navarre die beteiligten »Zeitungsarbeiter«: den Telefonisten, die Stenotypistin, den Reporter, den Schriftsetzer, den Drucker. Zur Blütezeit gedruckter Nachrichtenblätter um 1970 verzeichnete France-Soir als Frankreichs meistverkaufte Zeitung am Tag von General de Gaulles Tod eine Auflage von rund 2,26 Million Exemplaren. Danach ging es bergab, im Jahr 1998 zog die Zeitung France-Soir in einen Vorort, im Dezember 2011 wurde die letzte Papierausgabe gedruckt. Vom Gebäude blieb nur die Fassade, das Innere wurde entkernt und zu modernen Büros umgebaut. Im Lichthof steht eine große Metallskulptur von dem Künstler Daniel Graffin namens »Fleur sans danger«. Obwohl sie sich ab und zu dreht, soll sie wohl nicht an die Rotationsmaschinen des Zeitungsdrucks erinnern, sondern evoziert mit Kreisel und Tretroller eher ein Kinderzimmer, so legt eine Aussage des Künstlers nahe (»Each viewer will project his interpretation of this faraway window into a child’s playful world, and will invent imaginary links between elements by doing so…«

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