PARIS STRASSENWEISE: RUE SAINT-MAUR
Autobiografie eines Gebäudes: Schon bevor ich jemals durch diese Straße im Nordosten von Paris spazierte, kannte ich sie aus einem Dokumentarfilm. »Die Kinder aus der Rue Saint-Maur« habe ich zweimal gesehen, später auch das Buch »209 rue Saint-Maur, Paris Xe« von Ruth Zylberman auf Französisch gelesen. In Film und Buch rekonstruiert die französische Regisseurin und Autorin die Schicksale der ehemaligen Bewohner. Für ihre ergreifende, eindringliche Dokumentation verfolgte sie unzählige Spuren, fahndete in Registern und Archiven, schrieb weltweit Briefe und führte zahlreiche Interviews dazu, wie die Menschen die Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs und den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten. Viele der jüdischen Bewohner waren deportiert und in den Konzentrationslagern ermordet worden, einige Überlebende spürte die Regisseurin auf. Manche hatten ihre Eltern verloren, einige nur überlebt, weil sie von Nachbarn aufgenommen oder gewarnt worden waren. Doch auch Kollaborateure und Denunzianten gab es im Gebäude.
Kontinuierlicher Wandel: Namensgeber der Straße, die sich vom 10. bis ins 11. Arrondissement zieht, vom Hôpital Saint-Louis bis zum Quartier de la Roquette, ist der Heilige Maurus, ein Benediktinermönch aus Rom, den Benedikt selbst der Legende nach im 6. Jahrhundert nach Gallien geschickt habe. Architektonisch geht es kunterbunt zu, Neues wurde eingefügt, Altes aber nicht aufgegeben – hinter dem Tor der Hausnummer 81 erstreckt sich die idyllische Passage Saint-Maur, bei Nummer 98 die ruhige Cité de l’Industrie. Entlang der Rue Saint-Maur grenzen Art Déco-Gebäude direkt an Apartmenthäuser aus den 1960er-Jahren. Im neoromanischen Stil im 19. Jahrhundert erbaut wurde die Kirche Saint-Joseph des Nations, an die industrielle Vergangenheit erinnern die einstigen Eisengießereien (Nr. 12, Nr. 38–40, Passage de la Fonderie Nr. 92, siehe auch unten) wie auch das frühere Firmengebäude der Etablissements André Debrie (Nr. 111–113), einem Hersteller von Filmtechnik. Besonders auffallend ist das 1929 erbaute Eckgebäude (Nr. 176) an der Kreuzung mit der Rue du Faubourg du Temple, für dessen viele Fenster jeweils Erker auskragen, sodass ein Architekturführer sowohl von einer »machine à voir« spricht als auch vom maritimen Look dieses »Dampfers«. Zu den brutalistischen Betonbauten der 1990er-Jahre wiederum zählt die Kita (Nr. 56) des französischen Architekten Christian Hauvette (1944–2011), die sich zur Straße hin abweisend und verschlossen gibt, nach hinten aber komplett verglast zum Garten öffnet.
Pariser Melange: Ähnlich bunt ist die Mischung der Läden im Erdgeschoss – zwischen aufgegebenen Gewerbelokalen, Imbissen und kleinen Supermärkten, Änderungsschneiderei, Waschsalons und Nagelstudios (Onglerie) residieren die Tanzschule Pole & Dance und der Coiffeursalon »afro-antillais« Cindy, ein indischer Schönheitssalon und der Baumarkt Mr. Bricolage, die Buchhandlung Libralire und die Boutique Africouleur. Hinein mischen sich die Anzeichen der Gentrifizierung, längst sind im maroden Arbeiter- und Migrantenviertel mit hoher Armutsquote etwas finanzkräftigere Menschen zugezogen – die italienische Epicerie Paisano, das Feinkostgeschäft Julhès, die Bäckerei La Panifacture, der Coffeeshop Caféinoman, der Craft-Beer-Laden Hop Malt Market, das auf Wodka spezialisierte Vodka Lab, die Tortenbäckerei Céline Cake Design, die Patisseriekurse von Agatto und die »epicerie antigaspi« NOUS, die sich um Nachhaltigkeit bei Lebensmitteln bemüht, spiegeln die Nachfrage einer jungen Klientel.
Paris 11e: In der knapp 2 Kilometer langen Rue Saint-Maur kann man westafrikanisch, afghanisch, marokkanisch, mexikanisch, spanisch, chinesisch, kambodschanisch und koreanisch essen, die usbekische, die portugiesische oder die Thai-Küche probieren, Tapas, Sandwiches, Pizza und Burger bestellen. Eine besondere Empfehlung verdienen das Trâm 130 der französisch-vietnamesischen Köchin Priscilla Trâm (Nr. 130), die hübsche Weinbar Les Oeillets (Nr. 137), das Double Dragon (Nr. 52) und Le Servan (Nr. 32) der beiden Schwestern Katia und Tatiana Levha. Fast ebenso so zahlreich wie die Essadressen sind die Bars und Cocktailbars mit Les Acolytes, Abricot, Fifty Fifty, Schmoutz, Chat Noir, Les Enfants Terribles und weitere wie das Eckcafé Le Myrobolant. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Straße nicht zur Partymeile wandelt, wie die Querstraße Rue Oberkampf schon vor Jahren, in der die nächtliche Kneipen-Kultur den Ton angibt.
Digitale Kunst und Street-Art: Im Halbdunkel bewegt man sich durch riesige digitale, mit Musik unterlegte Kunstwerke von Van Gogh, Klimt und anderer populärer Maler, durch die Welt von Asterix oder der ägyptischen Pharaonen. Das Atelier des Lumières (in Nr. 38) wurde 2018 in einer ehemaligen Eisengießerei mit 10 Meter hohen Wänden eröffnet, der Fonderie du Chemin-Vert (1835–1935). Dieser Vorreiter beim Trend zu immersiver Kunst erfreut sich nach wie vor so großer Beliebtheit, dass die Online-Reservierung eines Tickets mit Zeitfenster unbedingt angeraten ist. Für die Multimedia-Installation kommen ein räumliches Soundsystem und 140 Videoprojektoren zum Einsatz, die die Bilder per »Fassadenmapping« auf Wände, Decken und Fußböden projizieren.
An der Straßenkreuzung zur Rue Oberkampf erhält Le M.U.R. zweimal im Monat ein neues Street-Art-Werk – in den unterschiedlichen Stilen der urbanen Kunst, ob gesprüht, mit dem Pinsel oder der Rolle aufgetragen, ob Acrylfarbe oder Stencil, Paste-up oder Collage (mehr dazu hier).
Pariser straßenweise: Rue des Abbesses, Rue de Bretagne, Rue des Martyrs, Rue Montmartre, Rue Montorgueil