PARIS STRASSENWEISE: RUE MONTORGUEIL

Im zweiten Arrondissement: Vom Forum des Halles bis zur Rue Réaumur reihen sich in der Rue Montorgueil mehr als zwei Dutzend Metzger, Fisch- und Gemüsehändler, Käsegeschäfte, Patisserien, Bäckereien, Traiteure und Blumengeschäfte aneinander. Eigentlich gibt oder gab es so eine Marktstraße, in der die Anwohner all das einkaufen können, was sie an Lebensmitteln für den täglichen Bedarf benötigen, in fast jedem Pariser Viertel, doch nicht alle sind so lebendig und intakt wie hier im 2. Arrondissement. Seit Jahrzehnten schon zählt sie zu meinen Lieblingsorten in Paris. Das Viertel hat sich zwar verändert, seit es weitgehend Fußgängerzone ist, doch die Burgerbuden und Coffeeshops sind bislang nur am äußersten Ende der Straße untergekommen. Mittendrin gibt es zwischen all den Markthändlern noch mehrere nette Caféterrassen und Lokale für ein Mittagessen. In den Seitenstraßen wird es aber stetig schicker, das Hotel Bachaumont und hippe Cocktailsbars künden schon Gentrifizierung und Wandel (Fotos von 2003 bis heute).

Austernmarkt: Im Mittelalter begründete König Philippe Auguste den großen Markt dort, wo heute nur noch das Forum des Halles als riesige unterirdische Shoppingmall an den Wegzug aus der Stadt nach Rungis erinnert. Aus allen Himmelsrichtungen Frankreichs kamen einst die Waren vom Land in die Stadt, und in der Rue Montorgueil als dem zentralen Zufahrtsweg von Norden siedelten sich die Fisch- und Austernhändler von der Küste an. Die im 18. Jh. gegründete Société des Huîtres d’Etretat befand sich in 61–63 rue Montorgueil, während die Austern aus Fécamp an der Rue Tiquetonne verkauft wurden. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert soll es hier Wasserbassins mit lebenden Austern gegeben haben. Dazwischen eröffneten Gasthäuser und Restaurants, zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa das »Rocher de Cancale«, das es bis heute gibt, das allerdings mehrmals umzog. Hier soll einst das Rezept für Seezunge auf normanische Art erfunden worden sein, und die Austern aus Cancale galten als besonders fein.

Nr. 17: Die Passage de la Reine-de-Hongrie verdankt ihren Namen einer Markthändlerin namens Julie Bêcheur oder Pecheur, deren Ähnlichkeit mit der Mutter von Marie-Antoinette ihr den Spitznamen »Königin von Ungarn« eintrug – und den Tod, denn während der Französischen Revolution starb sie unter der Guillotine, da sie mit der Monarchie sympathisiert hätte…

Nr. 28: Aux Tonneaux des Halles ist eines der traditionellen Lokale der Straße. Hier stehen nach wie vor französische Hausmannskost und klassische Bistrogerichte auf der Speisekarte – gegrillte Markknochen, Entenbrust, Lammkarree, aber auch die üblichen Verdächtigen wie Burger, Steak Frites und Fish & Chips – zu für Pariser Verhältnisse recht günstigen Preisen unter 20 €.

Nr 38: Das 1832 eröffnete L’Escargot Montorgueil mit der goldenen Schnecke über dem Eingang und einer Wendeltreppe zu den Salons im Obergeschoss zählt zu den alteingesessenen Pariser Restaurants, die schon viele wechselnde Zeiten überdauert haben. Proust und Picasso waren hier zu Gast, Sarah Bernhardt und Charlie Chaplin auch… Selbstverständlich stehen nach wie vor Schnecken auf der Karte – ganz einfach mit Knoblauchbutter und Petersilie oder ganz dekadent mit Foie gras oder schwarzen Trüffeln.

Nr. 45: Bei Fou de Pâtisserie ist spannend, ob das Konzept Erfolg haben wird. In der Pâtisserie, gegründet von den Machern des gleichnamigen Magazins, wird nicht selbst an Törtchen und aufwendigem Kleingebäck wie Macarons getüftelt, sondern täglich versorgen ein paar große  französische Konditorkünstler wie Pierre Hermé oder Philippe Conticini und Nachwuchs-Pâtissiers den kleinen Laden mit ihren Kreationen.

Nr. 50: Auch das Lokal La Grille Montorgueil kann Geschichten erzählen, so wurden hier in den 1930er-Jahren Szenen für den Film »Gueule d’Amour« mit Jean Gabin gedreht.

Nr. 51: Ehrfürchtig macht das Gründungsjahr der Pâtisserie Stohrer. Die älteste Patisserie der Stadt wurde vor über 280 Jahren gegründet. 1725, als Maria Leszczynska, die Tochter des polnischen Königs Stanislas, Ludwig XV. heiratete, brachte sie ihren Hofkonditor Nicolas Stohrer mit nach Versailles. Fünf Jahre später eröffnete Stohrer eine Bäckerei in der Rue Montorgueil. Nicht ganz so alt ist die wunderschöne Ladenausstattung, sie stammt aus dem 19. Jahrhundert. Zu den Klassikern zählen hier Baba au Rhum, Eclairs und Mille-feuille-Gebäck, ich interessiere mich mehr für die Quiches, Lachsmousse und hausgemachten Salate.

Nr. 54: Die 1927 eröffnete Boucherie Alain Tribolet ist auch schon fast ein Jahrhundert alt, und zählt nicht nur Anwohner sondern auch renommierte Küchenchefs zu ihren Kunden, die das Fleisch von Schweinen, Rindern und Lämmern aus dem Aveyron, dem Limousin und der Auvergne schätzen.

Nr. 56: Das Hotel war lange mein Lieblingshotel, und wenn ich ein Zimmer zur Straße hatte, saß ich oft wie gebannt am Fenster und habe den Markttrubel beobachtet. Passend zu den Hipstern, die heute im Viertel immer mehr werden, wurde es renoviert und auf vier Sterne upgegraded. Jetzt heißt es nicht mehr Grand Hotel de Besançon sondern Victoires Opéra  – und seither habe ich dort nicht mehr übernachtet.

Nr. 57: Dafür setze ich mich jetzt gern in Café du Centre oder in Le Compas (Nr. 62), genauso gute Logenplätze, um den Pariser Alltag zu beobachten. Abends gehört dazu auch die Müllabfuhr, die hier mit all den Bananenkisten, Plastikfolien und Lebensmittelabfällen, mal abgesehen vom Hausmüll der Anwohner, ordentlich zu tun hat.

Nr. 78: Die prächtige Fassade des bereits erwähnten Rocher de Cancale wurde restauriert – wer mag, kann hier nach wie vor die berühmten Cancale-Austern direkt aus der Bucht am  Mont Saint-Michel bestellen.

Nr. 82: Im A la Mère de Famille gibt es all die Süßigkeiten von Guimauve (Mäusespeck) und Karamellbonbons über Pâte de Fruits bis zu Orangettes, Schokolade und Nougat, die französische Kindheitserinnerungen ausmachen. Das denkmalgeschützte Hauptgeschäft der 1761 eröffneten Chocolaterie und Confiserie befindet sich allerdings in 35 rue du Faubourg Montmartre.

Nr. 86 La Fermette: Im Käse-Geschäft werden Aficionados auch außergewöhnliche Sorten finden, eine geräucherten Raclette-Käse aus Rohmilch, getrüffelten Brillat-Savarin, Sainte-Nitouche (Corbières) und eine große Auswahl an Ziegenkäse. Mein Tipp: Auch die Milchprodukte mal probieren, beispielsweise die die Algenbutter (beurre aux algues) oder den Quark (fromage blanc fermier).

Nr. 90: Mariage Frères (wie auch Kusmi in Nr. 15) ist ein alteingesessenes Pariser Teegeschäft, doch das Hauptgeschäft liegt im Marais, und die Tendenz, überall Filialen zu eröffnen, ist eine neuere Entwicklung. Selbst in den drei großen Pariser Kaufhäusern ist Mariage Frères vertreten, doch die Auswahl in den eigenen Läden ist größer. Ich kaufe meinen Lieblingstee French Breakfast immer gleich kiloweise, denn da gibt es im Hauptgeschäft etwas Rabatt.

Nr. 92: Im Little Italy geht es weniger pariserisch zu, das schmale Lokal könnte vermutlich so auch in New York oder Rom stehen. Für einen Teller Pasta mittags genau richtig.

Die Fortsetzung in nördlicher Richtung heißt nun Rue des Petits Carreaux.

Nr. 2: Die belgische Kette Le Pain Quotidien ist zum Frühstücken beliebt, weil dort die Gläser mit Nussauftrich und Marmelade zur Selbstbedienung einfach auf dem Tisch stehen. Mittags gibt es große Salate und Sandwiches, und auch hier weitere Filialen.

Nr. 5: Das italienische Feinkostgeschäft Delitaly (eins von mehreren in Paris) offeriert frische und getrocknete Nudeln, Olivenöl aus der Toskana, Wein und Käse, Wurstspezialitäten und mehr. Mit den frischen Antipasti kann man sich hier wunderbar für ein Picknick versorgen.

Nr. 9: Auch die Konfitüren der Chambre aux Confitures gibt es in mehreren Läden in Paris, im Marais und meiner zweiten Lieblingsstraße Rue des Martyrs beispielsweise, sie sind aber meist so winzig, dass man sie leicht übersieht. Ich schleppe meist Bitterorange, Pampelmuse und Birne mit nach Hause, obwohl ich selbst gute Marmeladen einkoche. Praktisch: Man darf alle Sorten probieren!

Nr. 14: Über das Breizh Café in Saint-Malo habe ich in meinem Blog schon eine Lobeshymne angestimmt: So gut können knusprige Galettes aus Buchweizenmehl schmecken. In Paris gibt es neben dem Ableger in der Rue Montorgueil weitere im Marais und in Saint-Germain.

Nr. 16: Kurz vor dem Ende der Straße ist mit Eric Kayser noch ein weiterer Bäcker zu entdecken, dessen Ruf weit über Paris hinausreicht – er zählt zu den besten Brotbäckern der Welt. Nach einem ersten Laden in der Rue Monge Mitte der 1990er-Jahre eröffnete er viele weitere, darunter mehr als zwei Dutzend in Japan und insgesamt mehr als 100 weltweit in rund 20 Ländern. Seine Backbücher sind teilweise ins Deutsche übersetzt, zum Thema Brotbacken oder Tartes.

 

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