PARIS STRASSENWEISE: RUE DE BRETAGNE

Vom Geheimtipp zum Hipsterviertel: Zum Reiseführerschreiben gehört es dazu, dass man Geheimtipps nicht für sich behält. Auch wenn es schwerfällt. Einerseits aus Sorge, dann selbst keinen Platz, kein Bett, keinen Tisch mehr zu bekommen, andererseits möchte man manches auch vor den Touristen / der Gentrifizierung / dem Kommerz bewahren. In Paris ist die Zwickmühle kleiner als anderswo, hier bleibt absolut nichts lange ein Geheimtipp, zu viele Stadtmagazine, Gastroführer, Tageszeitungskolumnisten und Blogger aus aller Welt spüren hier täglich neue Tipps auf – da blieben meine Bedenken wirkungslos. Was mit ein bisschen Mundpropaganda beginnt, macht schnell die Runde, und dann erlebt manch kleine Location plötzlich mehr Andrang, als sie verkraften kann.

Rue de Bretagne: Die Straße im 3. Arrondissement ist eine Einkaufsmeile für den täglichen Bedarf, wie es sie in so gut wie jedem Pariser Stadtviertel gibt – und solche »Marktstraßen« mit Bäckern und Patisserien, Traiteuren und Gemüseläden, Metzgern, Wein-, Käse- und Fischhandlungen sowie einigen Cafés und Bistros dazwischen für die Verschnaufpause ziehen mich besonders an. Über einige habe ich hier schon (Fan)Artikel geschrieben, die Rue des Martyrs und die Rue Montorgueil beispielsweise. Die Rue de Bretagne habe ich kennengelernt, als im Carreau du Temple noch Klamotten auf Wühltischen verkauft wurden, der Couscous im Chez Omar noch als Geheimtipp galt – weil man nicht reservieren konnte, stand man auf der Straße an für einen Tisch –, und im Marché des Enfants Rouges noch nicht fast jeder Stand ein Imbiss war. Im kleinen Ecklolal mit Blick auf den »Markt der roten Kinder« (der so heißt, weil sich hier ein Waisenhaus befand, dessen Kinder rote Uniformen trugen) einen Salat zu essen oder zu frühstücken, war eine nette Alternative zum Restaurant, wenn man mal nicht so viel Geld ausgeben wollte. Heute gibt es hier mehr Ess- als Marktstände, was auch den Tauben bekannt ist, und ohne Burger geht’s auch nicht mehr.

NoMa: Seit einiger Zeit ist nicht nur die Straße angesagt, sondern gleich das ganze Viertel. Im Marais (= 4. Arrondissement), also dem Gay-Viertel an der Rue Vieille du Temple und im jüdischen Quartier rund um die Rue des Rosiers, geht es schon seit Langem so lebendig wie touristisch zu, im Haut-Marais (= 3. Arrondissement) dagegen war es ruhiger, entspannter, geradezu friedlich. Dann kamen erst die Kunstgalerien, Cocktailbars und hippen Hotels, im Gefolge die Vintage-Boutiquen, veganen Imbisse und Kaffeeröster. Die Straßen rundherum sind inzwischen fest in der Hand der »Bobos«, der bourgeoisen Bohème, für die sowohl ihr Lieblingscoffeeshop für den Espresso am Morgen wie auch der Bio-Imbiss mit Smoothies und veganen Snacks oder eine andere »cantina du quartier« quasi ins Öffentliche verlängerte Wohnzimmer sind. Und analog zur Kurzformel SoPi (South of Pigalle) tauften die Hipster auch dieses Viertel um, das nun NoMa (North Marais) oder HaMa (Haut-Marais) heißen soll. Geht’s noch? Aber immerhin, statt austauschbarer, weltweit vertretener Kettenläden pflegt man hier die Individualität: Französische Mode von Isabelle Marant bis zu Le Slip Français, viele Shops mit Design, Wohnaccessoires, Kunsthandwerk oder Papeterie wie Empreintes und Papier Tigre und tolle Concept Stores wie Merci, Front de Mode und The Broken Arm. Aber es wird unaufhaltsam teurer hier, Luxuskonditoren wie Pierre Hermé und Jean-Paul Hévin eröffneten Filialen in der Rue de Bretagne.

Templer-Viertel: Das soll nicht heißen, dass ich nicht nach wie vor gern durch das Viertel bummele. In den Seitenstraßen der Rue de Bretagneim nördlichen Teil der Rue des Archives und der Rue du Vieille du Temple und bis zu den Métro-Stationen Fille du Calvaire und Saint-Sébastien-Froissart gibt es viele Galerien, megahippe Modemarken und aufstrebende Designer, gute Bars und Bistros. Besonders rund um den restaurierten Gusseisen-Bau des Carreau du Temple und die Grünanlage des Square du Temple (im Mittelalter residierten hier die Templer, ein mächtiger und reicher Ritterorden, daher der Name) lässt sich gut sein, beim Apéro im Café Crème in der Rue Dupetit-Thouars oder beim Glas Wein im Barav. Ich gehe gern im Taxi Jaune essen, schlendere durch versteckte Passagen (Passage des Gravilliers, Passage Vendôme) und das älteste noch existierende Chinesenviertel (in und um die Rue au Maire), staune über den Erfolg von Speakeasy Bars wie der Little Red Door und bedauere, dass Thiercelin zugemacht hat. Dass das hippe Ausgehvolk den Anwohnern aber längst zu viel wird, zeigen die rausgehängten Banner mit der Bitte um Nachtruhe. Wer nicht hier wohnt, beneidet sie dennoch…