TREPPEN, STIEGEN, STÄFFELE: DIE BAHNHOFSTREPPE IN MARSEILLE
So geht Ankommen: Raus aus dem Zug im Kopfbahnhof von Marseille und ab durch die Mitte. Oder raus aus dem Shuttle-Bus vom Flughafen, der ebenfalls am Bahnhof hält. Schnell durch die Eingangshalle und die großen Glastüren hinaus auf den Vorplatz. Staunen über den Traumblick auf Marseille: Im gleißenden Sonnenlicht liegt einem die Stadt zu Füßen, eine prächtige Treppenanlage mit Skulpturenschmuck und verspielten Leuchten führt vom Gare Saint-Charles hinunter zu einem von Bäumen gesäumten Boulevard und mitten in die Metropole. Ein schöner Empfang. So geht Vorfreude!
Und das geht nicht nur mir so: »An einem Sonntagmorgen im März 1973 steigt Commissaire Théodore Daquin im Bahnhof Saint-Charles mit zwei großen Koffern und sehr wenig Erfahrung aus dem Zug. […] Er durchquert die Bahnhofshalle und bleibt geblendet stehen.« Der Krimi »Schwarzes Gold« von Dominique Manotti spielt damit in einer Zeit, als Marseille noch als Mafia-Hochburg und »Chicago Frankreichs« galt. Ihr Kommissar macht dann einleuchtenderweise völlig anders Bekanntschaft mit der Stadt als ich fast fünfzig Jahre später auf Recherchereise in der zweitgrößten Stadt Frankreichs für meinen Reiseführer zur Côte d’Azur.
Gare Saint-Charles: Ein erstes Bahnhofsgebäude wurde Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut, der heutige U-förmige Bau mit einer glasüberdachten zentralen Halle entstand Ende des 19. Jahrhunderts nach Plänen des Architekten Joseph-Antoine Bouvard. Zu Kolonialzeiten war der Hauptbahnhof von Marseille eine wichtige Durchgangsstation für Schiffsreisende nach Afrika, in den Orient oder nach Südostasien. Die Front des Bahnhofsgebäudes zeigt eine ganze Reihe von Stadtwappen – in der Spitze das Wappen von Marseille. Zwischen den Fenstern des Obergeschosses sind zwölf Wappen französischer Städte zu sehen – die Ziele regionaler Zugverbindungen wie Dijon, Avignon, Montpellier oder Nizza. 2007 entstand eine neue, an den Altbau angrenzende Halle – die Halle Honnorat, die unter anderem dem Busbahnhof dient.
Monumentale Freitreppe: Im Jahr 1911 startete die Stadt einen Wettbewerb, um den hoch gelegenen Bahnhof durch eine monumentale Treppenanlage mit dem Boulevard d’Athènes zu verbinden. Nach Verzögerungen durch technische und finanzielle Probleme, vor allem aber den aufgrund des Ersten Weltkriegs wurde der Entwurf von Eugène Sénès erst in den 1920er-Jahren realisiert – mit etwas mehr als 100 Stufen überbrückt die weit ausladende Freitreppe seither einen Höhenunterschied von rund 15 Metern. Zur ersten Einweihung im Dezember 1925 waren allerdings die Skulpturen noch nicht fertiggestellt – oben rechts und links je ein Kind mit einem Löwen, in der Mitte Pylone mit weiblichen Figuren, die allegorisch Marseille als griechische Kolonie und Tor zum Orient verkörpern, dann folgen auf den Treppenabsätzen Bronzefiguren (die Aspekte Südfrankreichs zeigen, unter anderem Fischfang und Traubenlese, Blüten und Früchte) und ganz unten zwei Monumente, die die französischen Kolonien in Afrika und Asien repräsentieren. Im Jahr 1927 zelebrierte man dann die zweite Einweihung mit großem Pomp unter Anwesenheit von Staatspräsident Gaston Doumergue. Begründen kann ich es nicht, aber mir gefällt gerade besonders an dieser Treppe, dass sie nicht axial auf die Mitte der Bahnhofsfront zuläuft und nur ihre eigene Symmetrie kennt, und nicht wie bei repräsentativen oder religiösen Gebäuden sonst üblich den Haupteingang betont. Und außerdem auch die Geländer und Leuchten aus Gusseisen – anders als bei den Skulpturen ließ sich noch nichts Näheres dazu herausfinden.
Jedenfalls habe ich angefangen, mich für Treppen zu interessieren: ob als Teil der Ufergestaltung am Fluss wie in Köln und Lyon, als Objekt für Street-Art wie in Lyon und Amboise oder als historisches Erbe wie in Radebeul, Menton oder Wien. Manche Viertel wie der Pariser Montmartre oder Städte wie Stuttgart kämen ohne Treppen gar nicht aus!