TREPPEN, STIEGEN, STÄFFELE: DIE STRUDLHOFSTIEGE IN WIEN

Wortmusik: Vielleicht gibt es keine andere Treppe weltweit, die ihre besondere Berühmtheit so sehr einem literarischen Werk verdankt. Allenfalls kann noch die Treppe im ukrainischen Odessa mithalten, die dank einer Schlüsselszene in Sergei Eisensteins Film »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) ebenfalls zu einem emblematischen Schauplatz wurde. Im Jahr 1951 erschien der Roman »Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre« und brachte nicht nur dem Autor den (späten) künstlerischen Durchbruch, sondern machte auch das Bauwerk zu einer Ikone der Literaturgeschichte. Im Umkreis der Stiege spielen einige zentrale Ereignisse des Romans, der zeitlich in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt ist. Heimito von Doderer (1896–1966) zählt seither, trotz seiner frühen NSDAP-Mitgliedschaft, zu den gefeierten Schriftstellern und sein 900-seitiger Wien-Roman zu den Klassikern der Weltliteratur. Dass die Vielzahl der Personen und ihre privaten Wirren weniger wichtig sind als Atmosphäre und Schauplätze, genau beobachtete Details und vor allem Doderers Sprache, darin sind sich alle Bewunderer dieses monumentalen Romans einig. Als Wort- und Sprachmusik, einen »Stil, der Walzer tanzt«, beschreibt Michael Kleeberg Doderers Erzählweise in einem Artikel für die FAZ (2017). »Dieser Tausendsassa konnte einfach alles: Atmosphären, Wetterlagen, Landschaften, Gesichter, Häuserzeilen, Wohnungen, Körperhaltungen, Wirtshäuser, Viecher, das politische, philosophische und lebenspraktische Gedankenschießen in den Köpfen seiner Figuren, Reflexionen des Autors dazu als gewitzter Dreh obenauf – er kann’s!« schrieb Sibylle Lewitscharoff in »Die ZEIT« über den »großartig wuchernden Epochenroman« (2012). Und Eva Menasse, eine weitere Fürsprecherin Doderers unter den zeitgenössischen Autor:innen, nennt ihn gar einen »Gott der Literatur«.

Jugendstil-Architektur: Die Strudlhofstiege im 9. Bezirk verbindet die tiefer gelegene Liechtensteinstraße mit der Währinger Straße und überwindet als Kombination aus Treppen und Rampen einen Höhenunterschied von etwa 11 Metern. Für die von Johann Theodor Jaeger, einem Mitarbeiter des Wiener Stadtbauamts, entworfene Freitreppe wurde Mannersdorfer Kalkstein verwendet. Ihren Namen verdankt sie wie die gleichnamige Gasse im Alsergrund dem Hofmaler Peter von Strudl, der hier Ende des 17. Jahrhunderts eine private Malschule betrieb. Architektonisch wird die im November 1910 fertiggestellte Stiegenanlage dem Jugendstil zugerechnet. Im unteren Teil, der auch zwei Brunnen umfasst, erinnert die geschwungene symmetrische Gestaltung an Barocktreppen. Dort, wo der Platz für eine spiegelbildliche Anlage nicht ausreichte, vermitteln die ihre Richtung ändernden Rampen (ähnlich wie bei der Barocktreppe in Menton an der Côte d’Azur) den Fußgängern wechselnde Perspektiven.

Literaturmuseum Wien: Im Grillparzerhaus in der Johannesgasse hängt nicht nur der gestreifte Morgenmantel von Doderer in einer der Vitrinen, zu sehen ist auch eine Konstruktionsskizze, wie sie der Autor anfertigte, um den Überblick über die Vielzahl der Figuren und gleichzeitig ablaufenden Handlungen zu behalten. Es handelt sich um den Plan für den »21. September 1925 nachmittags« – jenen Tag, an dem die Straßenbahn Mary K. das rechte Bein »über dem Knie abgefahren« hat. Abgesehen von der beeindruckenden Sonderausstellung über den »Weltautor Stefan Zweig«, die noch bis zum 4. September 2022 zu sehen ist, lohnt auch die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek. In dem früheren Verwaltungsarchiv standen einst die Finanzakten der österreichisch-ungarischen Monarchie – in den alten Regalen wird mit modernen Mitteln, mit Bildern, Tönen und Inszenierungen, die Vielfalt der österreichischen Literatur dargestellt. Eine Entdeckungsreise – ich habe mir gleich nach dem Besuch zwei Bücher bestellt, auf die mich die Exponate aufmerksam gemacht hatten: »Wohin rollst du, Äpfelchen« von Leo Perutz und »Von Bourges nach Algier« von Bertha Zuckerkandl, der Bericht über ihre Flucht aus Frankreich während des Zweiten Weltkriegs.

Wien Strudlhofstiege

Wien Strudlhofstiege