TREPPEN, STIEGEN, STÄFFELE: DIE BAROCKTREPPE IN MENTON
Theatralisch: Was unterscheidet eine Barocktreppe von modernen Varianten? Ein besonderes Merkmal der Stilepoche ist die symmetrische Bauweise. Und den Aufgängen schenkten die Barockbaumeister besondere Aufmerksamkeit, ob zweiläufige Außentreppe am Ende einer Auffahrt oder opulente Innentreppe. Das Modell der Rampe Saint-Michel, zwei gerade Läufe, die ab dem Wendepodest die Richtung wechseln, wurde bei wenig Platz bevorzugt gegenüber einer weit ausschwingenden Rund- oder Ovalform. Ihre Funktion geht über die sachliche Anforderung – das Überwinden des Höhenunterschieds durch Stufen – weit hinaus. Dem Zeitgeschmack entsprechend ist sie sozusagen Teil einer Inszenierung. Die obere »Rampe« von der Rue Longue hinauf zum Parvis Saint-Michel setzt die gleichnamige Basilika in Szene, als Krönung der Perspektive und Demonstration höfischer Macht. Sie entstand Mitte des 18. Jahrhunderts unter Prinz Honoré III. (1720–1795). Also heißt es, dem überwältigenden Eindruck beim »Emporschreiten« – denn Zeit sollte man sich nehmen – von Stufe zu Stufe sein Augenmerk zu schenken. Auch wenn der Blick in die umgekehrte Richtung, auf die Bucht und das glitzernde Mittelmeer, vielleicht ablenkt. Die Zeit der Pandemie hat die Stadt Menton zum Renovieren genutzt – im Frühjahr 2021 wurde die Treppe neu eingeweiht.
Barockarchitektur: Seit dem Mittelalter, rund fünf Jahrhunderte lang, gehörte Menton zum Fürstentum Monaco, erst 1848 endete die monegassische Herrschaft und 1861 fiel die Stadt endgültig an Frankreich. Die Mitte des 17. Jahrhunderts, während der Regentschaft von Honoré II. (1597–1662), erbaute Basilika Saint-Michel ist zusammen mit dem Campanile und der Chapelle des Pénitents Blancs Teil eines beeindruckenden architektonischen Ensembles. Wie es charakteristisch für die Barockepoche ist, zeichnet sich die Kirche durch eine bewegte Formensprache aus. Durch konvex und konkav geschwungene Teile – Säulengruppen, Nischen für Statuen, Gesimse und Ziergiebel – werden Licht- und Schatteneffekte zu Gestaltungselementen der Fassade. Der benachbarte, mehr als 50 Meter hohe Campanile wurde ab 1701 errichtet und ist als markantes Bauwerk ein integraler Bestandteil der Stadtsilhouette von Menton. Der zweite kleinere Glockenturm wird auch Tour de l’horloge genannt. Der Platz vor der Kirche Saint-Michel ist mit einem Mosaik aus hellen und dunklen Kieselsteinen gepflastert mit dem Wappen der Grimaldi.
Künstlerische Täuschungsmanöver: Das Barock war auch die Ära der optischen Illusion. Trompe l’œil-Deckengemälde täuschen Gewölbe, Kuppeln oder Himmel vor, Wandmalereien bieten Ausblicke auf Fantasielandschaften. Ist kein Marmor und Gold vorhanden, wird Holz marmoriert und Gips vergoldet. Da passt es doch gut, dass es allerlei Ungereimtheiten um die Treppe gibt – so wurde die Barockfassade der Basilika Saint-Michel tatsächlich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffen und der untere Teil der Treppe während des Zweiten Weltkriegs. Und Honoré III., der den Thronfolgeanspruch auf das Fürstentum Monaco nur durch Einheirat erworben und schon 1733 abgedankt hatte, überließ die Regierungsgeschäfte einem unehelichen Sohn des letzten männlichen Vertreters des Hauses Grimaldi. War hat nun also tatsächlich die Treppe in Auftrag gegeben? 1753 hat Michel Castellinard, ein Baumeister aus Nizza, mit den Arbeiten begonnen, für die zunächst einige Häuser abgerissen werden mussten, bei der Einweihung mit allem Pomp im Jahr 1757 sei Prinz Honoré III. zugegen gewesen.