TREPPEN, STIEGEN, STÄFFELE: CROIX ROUSSE IN LYON

Fassadenkunst: Street-Art ist in Lyon allgegenwärtig, die Straßenkunstszene aktiv und rege. Etwas Besonderes sind die bunten Trompe-l’oeil-Gemälde der Künstlergruppe Cité Création, längst weit über die Stadt hinaus berühmt für ihre großen Wandmalereien. Anderswo werden riesige Murals für politische Botschaften genutzt, hier zeigen haushohe Fassadenbilder berühmte Einwohner der Stadt, Filmkunst oder eine Bibliothek mit den Autoren der Region. Das 1987 entstandene »Fresque des Canuts« ist mit 1200 Quadratmetern das größte Europas und wurde bereits mehrmals restauriert. Ich bin aber auch ein großer Fan des Lyoner Künstlers Ememem, für dessen Mosaike man den Blick auf den Boden richten muss.

Eine Sache des Blickwinkels: Von oben unsichtbar, und erst beim Treppensteigen zu entdecken: Im Croix-Rousse-Viertel sind nicht nur Wände, sondern auch einige der vielen Treppen bemalt – das ist sonst eher in Südamerika beliebt, etwa in manchen Stadtvierteln von Rio de Janeiro in Brasilien oder Valparaiso in Chile. Besonders eindrucksvoll ist der blau-weiß-gelbe Escalier Mermet, den der belgische Street-Artist Wenc im Rahmen des Festivals »Peinture Fraîche« 2019 in Szene gesetzt hat, als würde Wasser kaskadenartig die 80 Stufen heruntersprudeln oder sich Quallen im blauen Meer tummeln. Schon 2015 hat Genaro Lopez eine weitere Treppe in der Rue Prunelle farbenfroh mit grafischen Mustern gestaltet.

Treppauf, treppab: Früher Industrieviertel, heute bei Kreativen beliebter Szenekiez: In Croix-Rousse reihen sich Künstlerateliers, Galerien und Boutiquen aneinander. Beim Spazieren durch die Gassen sollte man sich auf unzählige Stufen gefasst machen – über viele Treppen geht es teils steil bergauf. Zwischendurch wird man immer wieder mit schönen Aussichten auf Lyon belohnt. Als Startpunkt für eine Erkundungstour bietet sich die hübsche Place Sathonay am Fuß des Croix-Rousse-Hügels an: Rund um das Denkmal unter großen Bäumen tummeln sich Boulespieler, Anwohner feiern einen Kindergeburtstag, die Kids spielen Verstecken. An einer Ecke begrenzt die Mairie des 1. Arrondissements die Platzanlage, rundherum reihen sich Cafés, eine Weinbar und andere Lokale aneinander – Frankreich wie aus dem Bilderbuch. Über die Stufen der Montée de l’Amphithéâtre geht es hinauf zum Amphithéâtre des Trois Gaules, ein antikes Theater aus der Römerzeit.

Auf den Spuren der Canuts: Croix-Rousse ist die » colline qui travaille«, der arbeitende Hügel, im Gegensatz zur »colline qui prie«, dem Gebetshügel mit der Fourvière-Kirche auf der anderen Seite der Saône. Einst ratterten hier die Webstühle – vor allem seit der Erfindung des Jacquard-Webstuhls wurde mehr Platz und eine Raumhöhe benötigt, wie es sie in der Altstadt nicht gab. Im 19. Jahrhundert wurden dafür die charakteristischen mehrgeschossigen Häuser am Croix-Rousse-Hang erbaut. Das Viertel entwickelte sich zur Hochburg der Canuts, wie die Seidenweber hier genannt wurden, ganze Familien lebten vom Weben des feinen Tuchs, Tausende von Webstühlen standen früher in den Werkstatthäusern, heute begehrter Wohnraum für Künstler und Kreative. Mit der Industrialisierung des Textilsektors kamen auch die ersten Arbeitskämpfe wegen schlechter Bezahlung und unzumutbarer Bedingungen – gegen die »révolte des Canuts« (1831 und 1834) setzte die Regierung Zehntausende Soldaten ein, um den Aufruhr zu unterdrücken.

Treppensteigen im Seidenweberviertel: In der Passage Thiaffait, die von der Rue Leynaud über eine Doppeltreppe mit der Rue Burdeau verbunden ist, haben sich junge Mode- und Schmuckdesigner angesiedelt. Über die Montée du Perron geht es zur Place Chardonnet hinauf, ein hübsches, nach dem Erfinder der Kunstseide benanntes Fleckchen mit Kastanienbäumen, das leider nur als Parkplatz dient. Ein Schleichweg führt durch Gebäude hindurch und mehrere Stockwerke hinauf – von der Rue des Tables Claudiennes (Nr. 55) zur Rue Imbert-Colomès (Nr. 20) und bis zur Place Colbert. Durch solche Traboules wie die Cour des Voraces gelangt man in Lyon von Häuserblock zu Häuserblock, was den Anwohnern im verschachtelten Treppenviertel manchen Umweg ersparte. Inzwischen sind viele Traboules versperrt und nicht mehr öffentlich, sondern nur bei Führungen zugänglich.

Traboules: So heißen die Durchgänge im Seidenweberviertel Croix-Rousse und in der Altstadt Vieux Lyon, die als Abkürzungen durch Innenhöfe und Häuser von einer Straße zur nächsten führen (das letzte Foto zeigt die Treppe in der Cour des Voraces). Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg waren die Traboules beliebte Fluchtwege für die Kämpfer der Résistance. Hinweise, wo es sich lohnt, in Innenhöfe und Passagen zu schauen, sind an den Hausfassaden angebracht, und auch das Office de Tourisme hilft weiter.

Viertel der Kreativen: Klar, man kann auch mit der Metro C von Croix-Rousse hinunterfahren in die Innenstadt von Lyon. Aber warum? Vom höchsten Punkt des Hügels geht es über die flachen Stufen der Montée de la Grande Côte wieder hinunter, mit vielen Lädchen rechts und links. Das frühere Seidenweberviertel ist heute der hipste Teil der Stadt. An vielen Ecken stößt man auf Künstlerateliers und Designgeschäfte, alternative Kneipen und kleine Theater, Coffeeshops mit eigner Kaffeeröstung, eine Micro-Brasserie und auf jede Menge Street-Art. Mit kommunalen Mitteln werden junge Talente gefördert, denn die Stadt will neues Leben im alten Quartier etablieren. In einigen Ateliers kann man den Künstlern und Kunsthandwerkern über die Schulter schauen, bei der Arbeit an der Drehscheibe, am Goldschmiedetisch oder beim Bemalen von Seide.

Lyon Croix-Rousse

Lyon Croix-Rousse

 

 

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