PARISER DÖRFER: LA CHAPELLE
Café A: Geheimtipps gibt es eigentlich nicht in Paris. Nichts bleibt lange nur Eingeweihten bekannt, zu viele Stadtmagazine, Gastroführer, Tageszeitungskolumnisten und Blogger aus aller Welt spüren hier täglich neue Lokale und Locations auf. Das im Couvent des Recollets versteckte Café (148 rue du Faubourg Saint-Martin) ist also ebenfalls nicht unbekannt, aber doch nicht ganz einfach zu finden. Es liegt im grünen Hofgarten des ehemaligen Klosters in unmittelbarer Nähe des Gare de l’Est. Mit einem kleinen Frühstück ein perfekter Start für eine Tour…
Zickzackkurs: Vom Gare de l’Est als Startpunkt geht es immer nach Norden, dabei überquert man mehrmals die Eisenbahngleise. Rechts und links der Bahnstrecke zeigt sich allerorten, was aus umgenutzten Gebäuden und Industriebrachen entstehen kann – versteckte Gärten, ein Kulturzentrum in einem Bestattungsinstitut, die längste Street-Art-Mauer von Paris entlang gewerblicher Hallen, eine ökologische Jugendherberge und ein Start-up-Inkubator für nachhaltige Mode.
Off the beaten path: Mir macht es riesig Spaß, abseits ausgetretener Sightseeing-Pfade durch Paris zu spazieren. Jedes Arrondissement besteht aus vier Quartiers, insgesamt sind es also 80 in Paris, und La Chapelle nördlich des Bahnhofs, die Nummer 72 darunter, gehört zum 18. Arrondissement. Benannt nach einem 1860 eingemeindeten Dorf, hatte der Bau der beiden Bahnhöfe und der Gleisanlagen im 19. Jahrhundert schon früh zur Folge, dass der dörfliche Charakter verlorenging. Alle 80 Quartiers werde ich hier nicht vorstellen, ein paar aber schon: Auteuil, Batignolles, Butte aux Cailles, Charonne, Faubourg Saint-Marcel, Mouzaia, Passy, Ternes, Tolbiac beispielsweise…
Jardin Marielle Franco: Durch den westlichen Seitenausgang des Bahnhofs geht es die doppelläufige Treppe hinauf, gleich rechter Hand liegt ein erster Garten. Angelegt wurde die kleine Grünanlage 2019 auf dem Dach des Okko-Hotels, in dem man direkt neben den Bahngleisen erstaunlich gut schläft. Selbst einige Weinreben und Obstbäume begrünen jetzt das Bahnhofsviertel, das zuvor eher eine Steinwüste war. Die namengebende Marielle Franco (1979 in Rio de Janeiro geboren und 2018 ermordet) engagierte sich für Frauen- und LGBTQ-Rechte und gegen Diskriminierung. Schon hier wäre ein neuer Einkehrstopp möglich, denn das Café Les Deux Gares profitiert von der sonnigen Lage auf der erhöhten Terrasse über dem Bahnhof. Biegt man etwas weiter nördlich in die Rue de l’Aquéduc, überquert man das erste Mal die Gleise.
La Caserne: Gleich hinter der Stahlbrücke steht noch »Sapeurs Pompiers« über dem Eingang eines dreieckigen Gebäudes, der Caserne Château-Landon. Der begrünte Innenhof ist öffentlich zugänglich, denn in der renovierten Feuerwehrkaserne kam ein städtischer »incubateur mode responsable« unter, also eine Residenz für Designerinnen und Start-ups, die sich mit nachhaltiger Mode befassen (www.lacaserneparis.com). Auf der umlaufenden Galerie saßen junge Menschen vor ihren Laptops, das vegetarische Restaurant eröffnet jetzt im Mai wieder. Dahinter biegt man nach links in die Rue Louis Blanc: 500 Straßen will Paris begrünen, und nach der Bürgerbefragung wird das Projekt zügig umgesetzt, wie vor der Schule gut zu sehen ist.
Asien in Paris: Jenseits der erneut überquerten Gleise sind drei, vier Straßen rechts und links der Rue Louis Blanc fest in der Hand der asiatischen Community. Restaurants mit nepalesischer oder indischer Küche oder Gerichten aus Sri Lanka, ein ceylonesischer Supermarkt, ein tibetischer Friseur und ein indischer Schönheitssalon hier bekommt man einen Sari ebenso wie scharfe Gewürze. Die »Little Sri Lanka« oder »Little Jaffna« genannte Nachbarschaft entstand in den 1980er-Jahren, als Tamilen aus Sri Lanka nach Frankreich flohen. Außer Läden und Restaurants gibt es auch Tempel und Schulen im Viertel, und der Umzug zu Ehren Ganeshas ist der festliche Höhepunkt im Viertel. Wo man den Boulevard de la Chapelle erreicht, sieht man links den Eingang zum Théâtre des Bouffes du Nord. Unter der Metro-Hochbahn hindurch und durch die kleine Grünanlage erreicht man die Rue Pajol, wo Besucher des Ganesha-Tempels in Nummer 17 vor der Tür ihre Schuhe ausziehen.
Zac Pajol: ZAC steht für »Zone d’aménagement concerté« und bezeichnet städtebauliches Erschließungsgebiet. Bahngelände und Bahnbauten wurden zum ökologischen Stadtteil umgewidmet, allerdings erst nach mehr als zwei Jahrzehnten der Verhandlungen. Im »écoquartier« entstanden Sportanlagen, ein Gebäude bezog die Universität, in den ehemaligen »Messageries«, einem Art-Déco-Bau für den Paketdienst, kam ein Collège unter. Dahinter gelangt man zur 1926 erbauten Halle Pajol, einem 196 Meter langen Güterverkehrsbau mit markantem Sheddach, das unter der Ägide der Architektin Françoise-Hélène Jourda energieeffizient umgebaut wurde und in dem unter anderem eine Jugendherberge und die Bibliothèque Vaclav Havel unterkamen. 3500 Quadratmeter Sonnenkollektoren auf dem Dach sind dabei nur ein Aspekt des ökologischen Umbaus mehrerer Gebäude. Der Platz davor, die Esplanade Nathalie Sarraute, ist ein Teil der Pariser Kampagne, mehr Straßen, Plätze und Haltestellen nach Frauen zu benennen. Konsequent heißt daher der überdachte, 2014 geschaffene Garten entlang der Halle Jardin Rosa Luxemburg (dessen Name an die 1919 in Berlin ermordete Politikerin erinnert). Auf Fotos aus dem Jahr 2016 sind die frisch gepflanzten Bäume noch klein, jetzt haben sie deutlich an Höhe gewonnen und stoßen demnächst schon ans Dach.
Marché de l’Olive: An der Kreuzung vor dem Eingang zum Garten kann man im Nord Nord für eine Eckkneipe erstaunlich gut essen, Artischocken-Carpaccio und Couscoussalat waren genau das Richtige bei schon sommerlichen Temperaturen Anfang Mai. Ein Abstecher um die Ecke führt noch zur denkmalgeschützten alten Markthalle, rund um die es dann doch noch fast dörflich wird, bevor man – der Rue Riquet in entgegengesetzter Richtung folgend – die Bahngleise erneut überquert.
Pompes Funèbres: Die Rue Aubervilliers bildet die Grenze zum 19. Arrondissement. Das Kulturzentrum Centquatre (www.104.fr), benannt nach der Hausnummer, nutzt seit 2008 die historischen Gebäude des ehemaligen städtischen Bestattungsinstituts. In den knapp 40.000 Quadratmetern kamen Konzertsäle und Künstlerateliers unter, es finden Ausstellungen, Messen wie die Biennale des Arts Numériques, Festivals und Workshops für Jonglieren, Tanz, Qi Gong oder Hip Hop statt. Gegenüber erstreckt sich entlang einer Sheddachhalle die mit 500 Metern längste Street-Art-Mauer von Paris.
Jardin d’Éole: Die Grünanlage mit Sportterrains, Wiesen, Hundefreilauffläche, Picknick- und Spielplätzen entlang der Gleise gegenüber der Halle Pajol ist mit 4 Hektar noch deutlich größer als der Jardin Rosa Luxemburg. Auf dem Gelände steht mit Le Grand Parquet (www.legrandparquet.fr) auch eine städtische Residenz und Probenstätte für Theater-Ensembles, die sich als Treffpunkt, Ort für Austausch und Recherche versteht.