PARISER DÖRFER: PASSY
Well, it depends… Seit Jahrzehnten fahre ich jeden Monat für zwei, drei Tage nach Paris, um immer auf dem Laufenden zu bleiben für meine Reiseführer. Eine schöne Gewohnheit, die ich vermisse, denn dieses Jahr hat es aus Corona-Gründen nur drei Mal geklappt, Anfang März, Mitte Juni und im Juli. Und bei allen drei Aufenthalten – kurz vor und kurz nach den ersten Einschränkungen – bestimmte dennoch CoVid-19 Aktivitäten und Ambiente. Während mich im März schon die Angst plagte, ausgerechnet in diesem beklemmenden, zellenkleinen Hotelzimmer in Quarantäne gehen zu müssen (im Bad war vor dem WC nichtmal Platz für die Knie), habe ich im Juni und Juli Touristenspots weiträumig umgangen und bin zu Fuß durch abgelegene Viertel mit möglichst wenig Gedränge spaziert. So war ich in Belleville, Ménilmontant und Charonne unterwegs, und einen Tag in Passy und Auteuil. Weil der Spaziergang im 16. Arrondissement mehr als 17 Kilometer lang war und ich am Ende auch recht fußlahm, stelle ich ihn hier in zwei Teilen vor – erst Passy, dann den Rückweg durch Auteuil.
Bezirk der Betuchten: An der U-Bahn-Station Passy wird aus der unterirdischen Métro eine oberirdische, die via Pont Bir-Hakeim dann die Seine überquert (oder umgekehrt, je nach Fahrtrichtung). Über eine Treppe gelangt man hinunter auf die Straßenebene und entdeckt dabei auch die Zweigeschossigkeit der Brücke, die untere Ebene nutzen Fußgänger, Radfahrer und Autos. Die 1905 erbaute Brücke wurde Ende der 1940er-Jahre nach einer Schlacht in Libyen aus dem Zweiten Weltkrieg benannt, doch berühmt ist sie eher wegen ihrer vielen Filmauftritte – nicht nur in »Der letzte Tango« mit Marlon Brando und Maria Schneider, auch in »Fahrstuhl zum Schafott«, »Zazie dans le Métro« und vielen weiteren. Das benachbarte Weinmuseum, ausgerechnet in der Rue des Eaux angesiedelt, ist in ehemaligen Kalksteinbrüchen aus dem 15. Jahrhundert untergekommen, die einst schon von den Mönchen der Abtei in Passy als Gewölbekeller und Weinlager genutzt wurden. Wieder zurück treppauf an der Metrostation vorbei geht es zur Place du Costa Rica und durch die Rue de Passy. Rechterhand versteckt sich in der Impasse des Carrières ein hübsches Restaurant mit einladendender Terrasse, die Villa Passy. Links gelangt man durch die Rue Jean-Bologne zu einem fast dörflich ruhigen Plätzchen mit der Kirche Notre-Dame-de-Grâce. Mit dem Austernrestaurant an der Rue de l’Annonciade mehren sich die Anzeichen dafür, dass im Nobelviertel Passy der wohlhabendere Teil der Pariser Einwohner lebt.
Maison de Balzac: In Nummer 47 der Rue Raynouard liegt unterhalb des Straßenniveaus das Gartenhaus, in dem der Schriftsteller Honoré de Balzac (1799–1850) einige Jahre eine Wohnung gemietet hatte und – am Rande des finanziellen Ruins stehend – den zweiten Eingang nutzte, um sich vor seinen Gläubigern aus dem Staub zu machen. Damals war das kleine Dorf Passy im Westen der Hauptstadt noch eine ländliche Gemeinde, an deren zur Seine abfallenden Hängen Wein wuchs. In dieser hübschen Zuflucht mit einem reizvollen Garten, die heute wie aus der Zeit gefallen zwischen riesigen Wohnblöcken liegt, erinnert eine Ausstellung an den Autor der »Comédie humaine« – mit Manuskripten, Briefen und Originalausgaben, aber auch mit einer Kaffeekanne. In seiner »Abhandlung über die modernen Reizmittel« schreibt Balzac über die aufputschende Wirkung des Kaffees, dieser lasse sozusagen vom Magen »die Funken bis ins Gehirn hinauf sprühen«. Der wie besessen, mitunter 24 Stunden ohne Unterbrechung arbeitende Balzac soll täglich bis zu 60 Tassen Kaffee getrunken haben, oder besser gesagt vor allem nachts, wenn er sich wieder an den Schreibtisch setzte und sich die Geistesblitze von Koffein beflügelt »wie Sprengbomben« einstellten.
Gleich nebenan (Nr. 51–55) versteckte sich ein mehrgeschossiger Bau aus dem Jahr 1932 leider gerade hinter einem Gerüst. Architekt war der in Belgien geborene Auguste Perret (1874–1954), der schon ab 1900 als einer der ersten Bauten in Eisenbetonbauweise ausführen ließ. Ein Namen machte er sich auch als Stadtplaner, der nach 1945 für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Le Havre verantwortlich war. Dieser Bau mit »französischen« bodentiefen Fenstern wirkt geradezu klassisch und ist ein gutes Beispiel dafür, wie harmonisch der Architekt ein modernes Gebäude an die historische Bebauung anpasste.
Marché Passy: Durch die Rue Singer und die Rue Lekain geht es zurück zur Rue de l’Annonciade, der Einkaufsstraße von Passy. Wo sich die Straße zur Place de Passy öffnet, steht eine kleine Markthalle aus den 1950er- oder 1960er-Jahren, die leider vernachlässigt wirkt, obwohl die Glasbausteine für ein schönes Licht im Innern sorgen (Di–Sa 8–13, 16–19, So nur 8–13 Uhr). Mit Androuet ist ein renommierter Käsehändler darin vertreten, bei der Poissonnerie Les Galets d’Etretat lassen sich Austern auch verkosten. Nach einem kurzen Zwischenstopp beim Espresso bin ich der Rue Bois-le-Vent, Avenue Mozart und Chaussée La Mutte bis zur Gare de Passy gefolgt.
Gare de Passy: Der ehemalige Bahnhof einer kurzen Vorstadtlinie ist heute ein schickes Restaurant, La Gare, mit Bar im Erdgeschoss. Unten, wo einst die Bahnsteige verliefen, werkelten nur die Köche im neokolonialen Interieur. Weil es Mitte Juli zwar nicht wirklich schönes Wetter aber schwül-warm war, zogen alle Gäste (wie auch ich selbst) es vor, draußen auf der begrünten Terrasse ihr Mittagessen einzunehmen. Die Pariser Interiordesignerin Laura Gonzalez hat aus dem historischen Bahnhof eine bunte Oase voller Palmen und Kakteen, bunt gemusterter Stoffe und farbiger Kacheln gemacht, die ihre Besucher in ein modernes Marrakesch befördert. Die 1851 eröffnete, 32 Kilometer lange Eisenbahnstrecke führte als Teil der Petite Ceinture rund um Paris früher bis zum Bahnhof Saint-Lazare und diente in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch ländlichen Gegend zunächst zum Warentransport, ab den 1930er-Jahren dem Personenverkehr.
Petite Ceinture: Hinter dem Bahnhof und seitlich des Boulevard de Beauséjour beginnt schon der Jardin de Ranelagh. Die 1993 stillgelegte Bahnstrecke wurde 2007 als grüne Promenade eröffnet, umfasst hier aber nur ein kurzes, 1,2 Kilometer langes Stück bis zur Gare d’Auteuil (heute eine Brasserie). Ich bin aber zunächst abgebogen, um die Rue Mallet-Stevens und die Fondation Le Corbusier zu besuchen, und anschließend noch durch die Jardins des Serres d’Auteuil spaziert. Weitere Teilstücke der Petite Ceinture wurden in anderen Stadtteilen zugänglich gemacht.