PARISER DÖRFER: FAUBOURG SAINT-MARCEL
Croulebarbe: So touristisch die Rue Mouffetard ist, für die meisten Paris-Besucher beginnt gleich hinter der Kirche Saint-Médard vermutlich Terra incognita. Und tatsächlich wird man in dem Croulebarbe benannten Quartier südlich des Quartier Latin nicht weltbewegend Spektakuläres, aber durchaus Bemerkenswertes entdecken. Jedes der 20 Arrondissement besteht aus vier Quartiers, insgesamt sind es also 80 in Paris, und Croulebarbe im 13. Arrondissement ist die Nummer 52 darunter. Inoffiziell wird das Quartier allerdings auch Faubourg Saint-Marcel bezeichnet (Faubourgs waren die früheren Orte außerhalb der Stadtmauern) nach einem 1860 eingemeindeten Dorf. Geprägt war der Faubourg durch die gewerblich genutzte Bièvre, an der sich Färber und Gerber ansiedelten, aber auch Brauer und Teppichweber. Beim radikalen Stadtumbau unter Baron Haussmann wurden nicht nur die Straßenachsen von Boulevard Arago, Port-Royal und Saint-Marcel sowie die Avenue des Gobelins durch das Viertel gezogen, sondern im Lauf der Jahrzehnte bis 1912 auch die Bièvre überdeckelt.
Manufacture des Gobelins: Ein monumentales Gebäude fällt gleich auf, wenn man an der Metrostation Les Gobelins aussteigt. Schon Mitte des 15. Jahrhunderts hatte Jehan Gobelin aus Reims eine Scharlachfärberei an der Bièvre gegründet, die seine Nachfahren erweiterten, und König Heinrich IV. siedelte hier flämische Tapisserie-Weber an als Teil seiner protektionistischen Wirtschaftspolitik. Auch Ludwig XIV. ebenso wie seinem Finanzminister Colbert war daran gelegen, Luxuswaren wie Spitze oder Tapisserien nicht aus Italien oder Flandern zu importieren, sondern in Frankreich selbst herzustellen. Im Jahr 1662 erwarb Colbert daher die Manufaktur für Wandteppiche für die Krone und siedelte weitere Gewerke an, Goldschmiede und Tischler, Maler und Goldschmiede. Charles Le Brun (1619–1690), Hofmaler des Sonnenkönigs, wurde der erste Direktor der Gobelin-Manufaktur.
Château de la Reine Blanche: Vorbei am empfehlenswerten Hotel Henriette in der Rue des Gobelins gelangt man zu einem der ältesten Gebäude des Viertels. An der Stelle eines mittelalterlichen Adelssitzes entstanden im 15. und 16. Jahrhunderts die jetzigen, restaurierten Gebäude des Château de la Reine Blanche (6 rue Gustave Geoffroy). Im Lauf der Jahrhunderte diente es unterschiedlichen Zwecken, als Wohnsitz der Familie Gobelin, als Brauerei, Jakobinerklub, Färberei und Gerberei. Zu festen Terminen kann es besichtigt werden (keine Website).
Mobilier National: Für das Mitte der 1930er-Jahre erbaute Art-Déco-Gebäude (1 rue Berbier du Mets), zeichnet der französische Architekt Auguste Perret (1874–1954) verantwortlich, ein Pionier der Eisenbeton-Architektur, der als Stadtplaner auch den Wiederaufbau von Le Havre und in Paris beispielsweise das Atelierhaus für Chana Orloff entwarf. Hier ist man für das Mobiliar des Staats zuständig, richtet Ministerien und Botschaften ein, den Elysée-Palast des Präsidenten und das Hôtel de Matignon des Premierministers, lagert und restauriert in sieben Werkstätten Textilien und Möbelstücke, unter denen wertvolle Antiquitäten sind (www.mobiliernational.culture.gouv.fr).
Square René Le Gall: Man glaubt es kaum, aber der kleine, etwas tiefer als das Straßenniveau gelegene Park hat eine Vergangenheit als Insel. Als die Bièvre noch nicht überdeckelt war, umschlossen zwei ihrer Flussarme hier die Île aux Singes, die Affeninsel, mit einem Gemüsegarten der Teppichweber. Die 1938 von dem Architekten Jean-Charles Moreux (1889–1956) geplante Grünanlage gilt als ein seltenes Beispiel für Art-Déco. Im von Hecken gesäumten Rosengarten umgeben vier »gloriettes« (Staffagepavillons als Blickfang) den zentralen Obelisken. Der schon Ende des 19. Jahrhunderts gepflanzte Kastanienbaum (Aesculus hippocastanum) direkt daneben beeindruckt durch Größe und Umfang. Für die ursprünglich Jardin des Gobelins genannte Grünanlage arbeitete Moreux mit dem Gartentheoretiker André Véra (1881–1971) und dem Maler und Landschaftsgestalter Paul Véra (1882–1957) zusammen. Die Brüder setzten bei der Gartengestaltung zwar auf Symmetrie, Geometrie und Regelmäßigkeit in der Tradition klassischer französischer Parks, forderten für die Umsetzung aber eine moderne Formensprache. Damit waren sie in der Zwischenkriegszeit Teil der Suche nach einem »style nouveau« in den Künsten, aus der Kubismus und Art-Déco. Dekoratives war integraler Bestandteil ihrer Gartenkonzepte – hier fällt vor allem das Rocaille-Dekor auf, die Masken aus Steinen und Fossilien, die an Gemälde von Arcimboldo erinnern, aber wohl eher von italienischen Renaissance-Gärten inspiriert sind.
La Tour Albert: Vom Garten sieht man gut den ersten (nach ihm benannten) »Wolkenkratzer« für Paris, den der Architekt Edouard Albert (1910–1968) konstruierte (33 rue Croulebarbe). In den Jahren 1958 bis 1960 erbaut, heute denkmalgeschützt, besitzt das Hochhaus 23 Geschosse, darunter in der sechsten Etage ein offenes, denn ursprünglich sollte hier eine öffentliche Passerelle entstehen mit Verbindung zur Straße, die niemals realisiert wurde. Die Decke des offenen Geschosses gestaltete Jacques Lagrange (1917–1995) mit einem 600 Quadratmeter großen Schwarz-Weiß-Fresko.