ABC-BÜCHER: DAS ALPHABET ALS LITERARISCHE FORM

Abecedarium: Reine Nachschlagewerke legen gern das Alphabet als Ordnungsprinzip zugrunde, Sachbücher seltener und Literatur kaum. Dennoch gibt es auch in der Belletristik allerhand Beispiele für Lesestoff in alphabetischer Reihenfolge: »Album« von Marie-Hélene Lafon und »Sachen machen« von Gertrude Stein stelle ich hier kurz vor. »Mein Alphabet« von Ilma Rakusa, »Alphabet der Gefühle« von Goffredo Parise oder »Lexikon der Angst« und »Lexikon der Liebe« von Annette Pehnt sind nur einige weitere Beispiele.

Buchstabenlogik: Die dem Werk einzelner Schriftsteller gewidmeten ABC-Bücher wählen das Alphabet, um einzelne Motive zu deuten, markante Romanfiguren zu porträtieren, fiktive und reale Orte zu situieren, topografische oder chronologische Hinweise zu geben und Poetologisches hervorzuheben. Die Stichworte sind arbiträr, ihre Auswahl ist immer subjektiv und kann nie vollständig sein – einer der Gründe, warum die alphabetische Reihung für Autor:innen so attraktiv ist, denn ein scheinbar unsystematisches Vorgehen ist hier legitim und die Offenheit auch für abwegig erscheinende Themen, Heterogenes und Disparates sehr reizvoll. Weder muss die Auswahl begründet werden noch folgt sie einer strengen wissenschaftlichen Systematik. »Das Alphabet ist euphorisch: zu Ende ist die Angst vor der „Anordnung“, die Emphase der „Ausführung“, die verdrehten Logiken, zu Ende ist es mit den Abhandlungen! Eine Idee pro Fragment, ein Fragment pro Idee […].« Roland Barthes, Über mich selbst (Seite 160). Das abstrakte und formale Alphabet hat nur scheinbar mit »Ordnung« zu tun, tatsächlich fungiert es als ein offener, antisystematischer Denkraum. Oder um es mit Joachim Ringelnatz zu sagen: »Das ABC ist äußerst wichtig. Im Telefonbuch steht es richtig.«

Lexikografische Schreibweisen: Gern adaptiert wird das Lexikon-Format auch für Erkundungen von Städten oder Themen – beispielsweise »Les Mots de Paris« oder das »Dictionnaire amoureux de Paris«. Letzteres »Wörterbuch« ist Teil einer seit dem Jahr 2000 im Verlag Plon erscheinenden Reihe mit zahllosen Titeln und hohen Auflagen (größter Erfolg war das »Dictionnaire amoureux du vin« mit 140.000 Exemplaren, zuletzt erschienen im Jahr 2021 Bände über Bäume, Parfüms und das Nutzlose). Sie alle wenden sich an »Fans und alle, die es noch werden wollen«. Und was macht die Faszination für Leser:innen aus? Die Texte sind eben keine pragmatischen Nachschlagewerke – ihnen ist zwar die Anordnung der einzelnen Artikel durch das ABC vorgegeben, aber die Auswahl der Einträge ist völlig frei. In »Les Mots de Paris« etwa illustrieren knapp 60 Gemälde und historische Fotografien aus dem Bestand städtischer Pariser Museen die Artikel zu Arc de Triomphe, Champs-Elysées, Louvre, Notre-Dame, Père Lachaise und Tour Eiffel, widmen sich aber auch dem Baguette, den Midinetten und Obdachlosen, den Kiosken, Straßenlaternen und Pissoirs. Auch Serena Dandini nimmt uns in ihrem Paris-Buch mit auf »Sentimentale Spaziergänge in alphabetischer Ordnung«.

Album: Ein Leichtgewicht ist das schmale Büchlein »Album« von Marie-Hélène Lafon, jedoch nur vom Umfang, keinesfalls in literarischer Hinsicht. 26 Texte enthält ihr »abécédaire hétéroclite«, von Arbres und Automne über Bottes, Journal und Nuit bis zu Odeurs, Tracteurs und Vaches. Mit den Überschriften ist das Thema gesetzt, sie verweisen auf das bäuerliche Leben auf dem Land, das die Autorin in diesen poetischen Prosaminiaturen zu einem »Album« ihrer Kindheit verdichtet. Während uns beispielsweise im »Alphabeth der Gefühle« von Goffredo Parise die unterschiedlichsten Figuren begegnen und die Erzählungen Gefühlen eine Geschichte geben, hat die Autorin in ihrem liebevollen Album eher eine Reihe von »Fotos« vereint, Momentaufnahmen der bäuerlichen Welt im Cantal. Ihre Bewohner werden nicht individualisiert, sprachlich bleibt die Autorin beim unpersönlichen »on« (man/wir). Natur und Dinge dagegen sind personifiziert, erwachen zum Leben, die Wolken ziehen am Himmel vorbei, die Kühe haben Namen, das Haus ist Nest, Höhle, Bauch, der Winter wohnt hier im kargen Bergland der Auvergne. Für die Verbindung zum Rest der Welt sorgt das »Journal« – als erstes in der Zeitung werden die Todesanzeigen studiert, das Fernsehprogramm ist unleserlich klein gesetzt, die Frauen füllen das Kreuzworträtsel aus, am Ende wird Gemüse aus dem Garten oder Käse darin eingewickelt.

To Do: Im rund vierzig Bände umfassenden Werk der amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein (1874–1946), die als bekannteste ungelesene Autorin ihrer Zeit gilt, ist ihr »book of alphabets and birthdays« vermutlich einer der unbekanntesten Texte. »Sachen machen. Ein Buch von ABCs und Geburtstagen« aus dem Jahr 1940 blieb zu Lebzeiten der Autorin unveröffentlicht. »Mit A fängt alles an«, heißt es am Anfang, und am Ende: »Z ist ein netter Buchstabe, mich freut, daß es kein Y ist, Y liegt mir nicht, warum, nun darum, Y liegt mir nicht, aber Z ist ein netter Buchstabe.« Dazwischen liegt eine fantasievolle Reise durch das Alphabet: Das R rollt herum wie ein Ball, das P ist nur komisch, das O immer froh… Ein komplexes Kinderbuch ohne jeden Anflug von Herablassung. Die kurzen Short Storys, die jeweils folgen, erinnern mit ihrem spielerischen Zugang zu Namen und Buchstaben an den Spracherwerb von Kindern. »Zu erwachsen für Kinder und zu kindisch für Erwachsene«, lautete das Verdikt von Alice B. Toklas. Ich kann es mir dagegen gut als Vorlesebuch vorstellen. Der Übersetzer Klaus Schmirler meistert die nur scheinbar anspruchslosen Texte mit Geschick.

Lexikon-Roman: Die 1970 veröffentlichte »sentimentale Reise zum Exporteurtreffen in Druden« von Andreas Okopenko habe ich nach so langer Zeit und vielen Jahrzehnten erneut gelesen. In der »Gebrauchsanweisung« fordert der Autor seine Leser:innen explizit auf, nicht linear zu lesen, sondern nach dem Zufallsprinzip, oder nach Belieben den Verweispfeilen zu folgen. Gleich mit dem ersten Eintrag stellt Okopenko eine Falle der Art »zurück auf los«: Wer dennoch bei »A« anfängt, wird verwarnt: »Sie sind es gewohnt – unter Umgehung des Vorworts – ein Buch von vorn nach hinten zu lesen. Sehr praktisch. Aber diesmal schlagen Sie, bitte, zur GEBRAUCHSANWEISUNG zurück, denn ohne die werden Sie das Buch nicht zum Roman machen.« In seiner Rezension einer Neuauflage des Bands 2008 in der SZ hat sich Burkhard Müller gefragt, ob es sich nicht doch nur um eine Sammlung »wunderbarer Kleinprosa« handelt. Doch wer im Buch blättert und von einem Stichwort zum nächsten wandert, kann nicht nur in hochinteressanten Details versinken, sondern auch Leerstellen entdecken, je nach eigenen Interessen nachschlagen und so »das Buch erst zum Roman machen«. Die lemmatisiert in einzelnen Artikeln bereitgestellten Motive, Informationen, Beschreibungen und Themen setzt der Leser im Baukastenprinzip zum Lexikon-Roman überhaupt erst zusammen. Haben mich bei der ersten Lektüre vor allem die poetologischen (siehe Verweise beim Eintrag »Nachworte«) »Lexikonartikel« durchs Buch geführt, sind es jetzt die kulinarischen – von Backstube, Brausepulver und Brotlaib über Gasthäuser bis zu Torte 1–8 und Wein 1–8. Andere interessieren sich womöglich mehr für Stichworte wie »Mastmädchen« und »Dicke Leute« (das verbindet den Autor mit Doderer) oder für die allgegenwärtige Donau – schließlich handelt es sich offensichtlich um eine Flussreise mit Auen, Bordereignissen, Städtchen und Wasserereignissen.

Proust-ABC: Als Einstieg in Prousts Welt und Nachschlagewerk zugleich will Ulrike Sprenger ihre Stichwortsammlung verstanden wissen. »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, das Hauptwerk von Marcel Proust (1871–1922), gilt als einer der bedeutendsten und als der längste Gesellschaftsroman der Weltliteratur. Ohne die »Zeit, verlorene« aus dem Titel des Romans und »Erinnerung, unwillkürliche« kommt ihr Alphabet erwartbar nicht aus – zwei Einträge, die in gebotener Kürze die wichtigsten Themen skizzieren. Glücklicherweise erhebt die Romanistin gar nicht erst den Anspruch, »alle Säle und Kämmerchen des labyrinthischen Werks zugänglich« zu machen oder alle über tausend reale und fiktive Personen aufzuführen. Stattdessen ist Sprenger auch abgelegenen Fragen nachgegangen und hat Kurioses zutage gefördert. Was also hat es mit Badeanzug, Bohnerwachs, Camembert, Quallen, Regenmantel, Salat und Spargel auf sich? Und welche Rolle spielen Akazienallee, Apfelbäume, Orchideen und Weißdorn oder Automobile und Eisenbahn?

Doderer-ABC: Ein weiterer alphabetischer Wegweiser durch das literarische Werk eines Schriftstellers ist das »Lexikon für Heimitisten« von Henner Löffler mit 100 Stichworten zur Prosa Doderers und einem kommentierten Personenverzeichnis. Auch dieses Kompendium gibt sich »vielseitig abseitig« und kann dafür aus dem Vollen schöpfen. Denn Heimito von Doderer fordert seine Leser:innen mit Sprachspielen und Wortwitz, Eigen- und Altertümlichkeiten, Übertreibungen und Skurrilitäten, Komik und Humor. Und der österreichische Autor nimmt sie ernst, indem er ihnen »die Fähigkeit und den Willen zur Apperzeption, welche die Lektüre voraussetzen, zutraut.« (Einleitung). Welche Rolle spielen also Jahreszeiten, Gerüche, Namen und Farben, wie steht es um Wutanfälle und Exzesse, dicke Damen und Hausmeister, was hat es mit Alkohol und Tabak auf sich?

Jean Paul von Adam bis Zucker: Zum 250. Geburtstag von Jean Paul Friedrich Richter im Jahr 2013 haben Bernhard Setzwein und Christian Thanhäuser ein Abecedarium aufgesetzt. In diesem literarischen Zettelkasten sind die erwartbaren Stichworte Luftschifferei oder Hundsposttage, doch kommt dem Projekt in die Quere, dass die »wilden Gedankenflüge und Sprachbilder« Jean Pauls durch angestrengt originelle Begriffe (Junggesellenmaschine, Grundsteinlegung, Quirl) nachempfunden werden, es tatsächlich aber nicht nur um sein Werk geht, sondern sich die (oft recht geschwätzigen) Einträge zu einer Biografie zusammenfügen sollen. Dabei ist ein Zettelkasten eigentlich ein dem großen deutschen Autor angemessenes Verfahren, dessen sich Jean Paul auch selbst bediente – sein 1244 Seiten umfassender Wörtervorrat im Nachlass, Exzerpthefte mit Zitaten aus aller Lektüre, die er seit seiner Jugend unter die Finger bekam, und Notizzettel als »Ideen-Gewimmel« waren für seine Arbeitsweise unentbehrlich.

 

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