NEUE SACHBÜCHER IM HERBST 2024
Leselust im Herbst: Im Oktober findet in Frankfurt am Main wieder die Buchmesse statt, Gastland ist 2024 Italien. Zeitungsfeuilletons und Buchblogger, TV und Rundfunk begleiten das vielfältige Programm schon vorab mit Hinweisen auf Neuerscheinungen, häufig mit Schwerpunkt auf der Belletristik. Die unendlich große Produktion an Romanen und Lyrik, Kinderbüchern und Ratgebern, Krimis, Fantasy- und Romance-Lesefutter habe ich nicht gesichtet, sondern mir nur aus den Herbstvorschauen der Verlage Sachbuchtitel vorgemerkt, die ich lesen möchte – eine ganz persönliche Auswahl, die nur meinen Interessen folgt. Alle Zitate stammen aus den Vorschautexten.
Natur und Kulturlandschaften: In der Kultreihe »Naturkunden«, herausgegeben von Judith Schalansky, erscheint im Herbst ein Band über Farne. Solvejg Nitzke porträtiert die immergrüne, schattenliebende Pflanze, die bevorzugt in lichtarmen Gärten und Wäldern wächst, aber trotz ihrer Unscheinbarkeit ohne Blüten oder Duft viele Menschen fasziniert (Okt., Matthes & Seitz).
Obwohl der großformatige Band Feed the Planet wie ein Bildband auftritt, möchte Fotograf George Steinmetz mit seinen Luftaufnahmen nicht nur dokumentieren, »wie unser Appetit die Erde formt«, sondern auch zum Nachdenken über die Prozesse und Zusammenhänge der Lebensmittelproduktion anregen. Texte des Umweltjournalisten Joel K. Bourne begleiten daher die mehr als 200 Abbildungen (Nov., Knesebeck).
Mit Pflanzen die Welt retten ist ein reißerischer Titel, doch mit seinem Sachbuch will Bernhard Kegel »grüne Lösungen gegen den Klimawandel« vorstellen (Okt., DuMont). Darin geht es dem Autor um technische und biologische Maßnahmen wie das Wiedervernässen von Mooren, um Algenfarmen, das Bauen mit Holz, die Fotosynthese von Nutzpflanzen und mehr.
Mit der Normandie hat die Journalistin Hilke Maunder nach der Südfrankreich und Burgund erneut eine französische Provinz kulinarisch porträtiert. Auf schöne Bilder und Rezepte beschränkt sich das »Reisekochbuch« der Frankreich-Expertin keineswegs, sondern liefert auch Hintergrundgeschichten »aus der Heimat von Cidre, Calvados und Camembert«, porträtiert Fischer und Landwirte, Produzenten und Köche und empfiehlt Märkte und Adressen.
Film und Musik: Als großer Fan der Blow up-Serie bei Arte mit so schönen Beiträgen wie »Mülltonnen im Film«, »Die Farbe Grün im Film« oder »Der Mond im Film« freue ich mich besonders auf Zeitverschwendung von Michaela Krützen (Aug., S. Fischer Verlag). Die Professorin für Kommunikations- und Medienwissenschaft geht der Frage nach, ob man mit »Gammeln, Warten, Driften« sein Leben vergeudet und betrachtet berühmte Figuren aus Literatur und Film: Von Jeff Lebowski, Hans Castorp und Oblomow bis zu Fellinis »Die Müßiggänger« und Capras »Lebenskünstler«.
Mit André Boße geht es auf Entdeckungsreise durch die französische Popmusik: Von Air bis Zaz, von Serge Gainsbourg bis Vanessa Paradis, von Johnny Hallyday bis Françoise Hardy. Voyage, Voyage lädt mit Text und Playlists dazu ein, die Musikhits Frankreichs kennenzulernen, von den Yéyé-Jahren über French Pop und Nouvelle Chanson bis hin zu Rock, Hip-Hop, Raï und Electro (bereits erschienen, Reclam).
Geschichte: Tatjana Tönsmeyer widmet sich in ihrem Buch Unter deutscher Besatzung den Jahren 1939–1945 und hat damit »die erste Geschichte des deutsch besetzten Europas geschrieben, die die Perspektive der Besetzten und nicht der Besatzer einnimmt«. Von Norwegen bis Griechenland und von Frankreich bis in die Sowjetunion mussten sich Millionen von Menschen mit den Besatzern arrangieren, im Alltag, am Arbeitsplatz, im Umgang mit Behörden und Militär. Die in Wuppertal lehrende und forschende Professorin dokumentiert Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, die »unterschwellig immer noch im Verhältnis der europäischen Nachbarn zu Deutschland präsent« sind.
Für die Gegenwart eine fruchtbare Lektüre dürfte das politische Buch Die Entscheidung von Jens Bisky sein, auch wegen vorschneller Vergleiche der Gegenwart mit der Weimarer Republik. Der Autor nimmt »Deutschland 1929 bis 1934« in den Blick – den Aufstieg radikaler Kräfte, die Selbstüberschätzung der Konservativen und Nationalisten, die sich einbildeten, Hitler zähmen zu können, Verelendung und Bürgerkriegsfurcht – und entwirft »das große Panorama einer extremen Zeit, die noch immer ihre Schatten auf die Gegenwart wirft« (Okt., Rowohlt).
Architektur und Literatur: Friedrich von Borries nimmt in Architektur im Anthropozän die Perspektive einer zukünftigen Archäologie ein, die sich auf die Suche nach den charakteristischen Architekturen unserer Zeit macht. Müllverbrennungsanlagen und Serverparks, mehrstöckige Schweineställe und Saatgut-Tresore an den Rändern der Städte verraten mehr über unsere zerstörerische Produktions- und Lebensweise als repräsentative Bauten in den Zentren. Der Architekt und Autor will mit seinem Buch »ein Psychogramm fortgeschrittener Industriegesellschaften« zeichnen (Nov., Suhrkamp).
Als sehr speziell, aber literaturwissenschaftlich und historisch höchst interessant schätze ich Provenienz ein, mit »Materialgeschichte(n) der Literatur«, herausgegeben von Sarah Grabner, Stefan Höppner und Stefanie Hundehege. Provenienz ist heute ein zentrales Thema für Museen und Galerien, doch auch Bibliotheken und Archive stellen sich zunehmend der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Herkunft und der Überlieferungswege ihrer Bestände (Nov., Wallstein).
Biografisches und Autobiografisches: Von Walburga Hülk erscheint eine Biografie über Victor Hugo als »Jahrhundertmensch«, mit 650 Seiten Umfang ähnlich monumental wie der französische Autor selbst (Okt., Matthes & Seitz), der im Nachbarland Klassikerstatus hat. Die emeritierte Professorin für Romanistische Literaturwissenschaft nutzt ihre neu gewonnene Freizeit fürs Bücherschreiben, 2019 erschien bereits »Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand«.
Ein bewegtes Leben schildert die Biografie der legendären Verlegerin Inge Feltrinelli (1930–2018). Der Schweizer Autor Marco Meier beschreibt frühe Lebensstationen in Deutschland und den Werdegang als Fotoreporterin: Inge Schönthal »wird in alle Welt geschickt, um berühmte Persönlichkeiten zu porträtieren, darunter Hemingway, Picasso und de Beauvoir. Als sie eines Tages bei einem Fest in der Villa Rowohlt dem aufstrebenden Verleger Giangiacomo Feltrinelli vorgestellt wird, nimmt eine einzigartige Liebesgeschichte ihren Lauf.« (Okt., Rowohlt)
Die Zeit scheint reif für ein paar Wiederentdeckungen, neu aufgelegt zum Kinostart wird der Band über die Witwe Clicquot von Tilar J. Mazzeo: Im Rausch der Zeit. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts übernimmt eine junge Witwe die Leitung des Familienunternehmens in Reims, »macht ihren Namen zur Marke« und wird zur »Grande Dame des Champagners« (Sept., Harper Collins).
Ein Buch, dem ich möglichst viele Leserinnen und Leser wünsche, sind die Pariser Erinnerungen von Misia Sert (1872–1950), die in der »Französischen Bibliothek« des Suhrkamp Verlags wieder aufgelegt werden. Mit ihrer Lebensgeschichte erinnert sich hier keine Künstlerwitwe als weibliche Hälfte eines Paars an schillernde Begegnungen und historische Ereignisse im Schatten des berühmten Gatten, Misia Sert war selbst die »Galionsfigur einer Epoche«: »Renoir malte ihr Porträt, Proust beschrieb sie in der Recherche, Ravel widmete ihr La Valse« (Dez., Suhrkamp).