MICHAELA KRÜTZEN: ZEITVERSCHWENDUNG

Dicker Wälzer: Auch mit 824 Text Seiten plus 134 Seiten Anhang kann ein Buch noch zu kurz sein. Denn Michaela Krützen verfügt mit großer Lässigkeit und großer Souveränität über ihr Thema »Zeitverschwendung« in Film und Literatur. Auf zehn Kapitel hat die Autorin ihr Buch begrenzt, darin zehn Figuren aus Romanen, Spielfilmen und Serien ausführlich unter die Lupe genommen, von Hans Castorp aus dem »Zauberberg« über Oblomow bis zu Fellinis Müßiggängern, die aus ganz unterschiedlicher Perspektive als Zeitverschwender dargestellt werden. Nicht nur für ihre zehn fiktionalen Beispiele nimmt sich die Autorin viel Zeit, sie setzt sie zudem jeweils mit weiteren Büchern und Filmen in Beziehung und zieht Verbindungslinien zum Theorie-Kontext. Dieses Verfahren, das Korrespondenzen und Bezüge auslotet, suchend mehrfach neu ansetzt, dem eine »Geste des Umkreisens« innewohnt, wie es im Vorwort heißt, macht die umfangreiche Studie so spannend wie lesbar.

Das bisschen Haushalt: Dass Krützen, Professorin für Medienwissenschaft an der Hochschule für Fernsehen und Film in München, deutlich mehr männliche Protagonisten behandelt und nur in zwei Kapiteln weibliche Charaktere analysiert, ist nachvollziehbar begründet: »Wem Zeitverschwendung vorgeworfen wird, dessen Zeit muss auch etwas gelten. Dass die Zeit von Frauen weniger wert sein muss als die von Männern, ist im Patriarchat selbstverständlich.« Um so interessanter erweist sich das Kapitel 9 über Betty Draper aus der amerikanischen, in den sechziger Jahren spielenden und sieben Staffeln umfassenden Serie »Mad Men«. Es befasst sich mit der Versorgungsehe, in der die Frau keine geldwerte Arbeit ausführen und nicht selbstbestimmt leben darf, sondern als Hausfrau in der Vorstadt Mann und Kinder versorgt und sich langweilt. Ihr als Traum propagiertes Leben ist in Wahrheit ein Albtraum: »Ihre Existenz lässt sich mit Simone de Beauvoir und Betty Friedan als Zeitverschwendung verstehen.« Dass das nicht eine retrospektive Zuschreibung auf die ab 2007 ausgestrahlte Serie ist, zeigen die im Kapitel analysierten Ausbruchsversuche der Ehefrau – sie enden für Betty stets mit der Rückkehr in ihre alte Rolle als »desperate housewife«.

Kränkeln in der Klinik: Hans Castorp, dessen Leben sich im Sanatorium abspielt, ist ein Gegenentwurf zu Existenzen, deren Alltag die Arbeit bestimmt, seine geheime Sehnsucht ist das Nichtstun: »Recht gut fühle ich mich eigentlich nur, wenn ich gar nichts tue.« Am liebsten verbringt der Ruhesuchende seine Zeit mit Dösen – die verordnete Liegekur kommt seinem Naturell sehr entgegen, zudem legitimiert sein Status als Patient dank Tuberkulose-Diagnose das Nichtstun, ohne dass er fürchten muss, als Faulenzer zu gelten. Zum Roman »Der Zauberberg« von Thomas Mann füllt die Sekundärliteratur viele Regalmeter, und als Literaturwissenschaftlerin mit Vergangenheit in Mann-Seminaren und -Vorlesungen fragte ich mich kurz, ob ich das 72 Seiten lange Kapitel 8 nicht lieber überspringe. Aber was soll ich sagen? Das wäre zu schade gewesen, etwa den Abschnitt zu den fünf üppigen Mahlzeiten im Davoser Berghof hätte ich nicht missen mögen, genau so wenig die zentralen Seiten zum Zeiterleben.

Schlendrian: Alle zehn Kapitel stehen unter einem Leitbegriff, der die Art der Zeitverschwendung, um die es geht, näher charakterisiert. Nur zwei habe ich hier vorgestellt, Routine und Ehe, die anderen sind Zeremoniell, Konsum, Gammeln, Liegen, Herumlungern, Warten, Arbeit und Medien. Die Lektüre lädt geradezu dazu ein, gleich weitere Zeitverschwender zu entdecken – so ging es mir etwa mit den Texten über das Gehen von »Bummelgenie« Robert Walser oder mit dem Ich-Erzähler im Roman »Netzkarte« von Sten Nadolny, der sich selbst große Arbeitsscheu attestiert und kreuz und quer durch die Bundesrepublik reist. Gerne hätte ich zudem in einen schon vor Jahren aussortierten Band von Christiane Rochefort geschaut, in dem in einer Kleinfamilie ständig der Fernseher läuft. Was schon andeutet, warum ich das Buch noch zu kurz finde: Unbedingt hätte ich mir noch ein Kapitel über zielloses Gehen gewünscht. Dass das gepasst hätte, bekräftigt Michaela Krützen sogar selbst im Vorwort: »Das Flanieren ist selbstverständlich eine der bevorzugten Fortbewegungsarten des Zeitverschwenders.«

Erhebend: »Letztlich handelt es sich bei der Lektüre von Sachbüchern um eine Verschwendung von Zeit, bei der (und das ist das Entscheidende) der Leser sich aber die ganze Zeit vorstellt, dass er seine Zeit sinnvoll nutzt.« So erzeuge das Buch einen »Schwebezustand« zwischen Zeitverschwendung und effizienter Zeitnutzung, fährt Stephan Porombka fort (»Wie man ein verdammt gutes Sachbuch schreibt«, 2007). Lesen habe ich noch nie für Zeitverschwendung gehalten, daher will ich nach diesem Zitat gar keine Wort- oder Gedankenspiele daran anknüpfen, sondern mich bei Michaela Krützen für den Schwebezustand bedanken, in den mich ihr Buch viele Lesestunden lang versetzte. Ganz sicher habe ich meine Zeit sinnvoll genutzt.

 

Michaela Krützen: Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024