TATJANA TÖNSMEYER: UNTER DEUTSCHER BESATZUNG

Der Zweite Weltkrieg: Tatjana Tönsmeyer widmet sich in ihrem Buch »Unter deutscher Besatzung« den Jahren 1939–1945 und hat damit »die erste Geschichte des deutsch besetzten Europas geschrieben, die die Perspektive der Besetzten und nicht der Besatzer einnimmt«. Von Norwegen bis Griechenland und von Frankreich bis in die Sowjetunion mussten sich Millionen von Menschen mit den Besatzern arrangieren, im Alltag, am Arbeitsplatz, im Umgang mit Behörden und Militär. Die in Wuppertal lehrende und forschende Professorin dokumentiert Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, die »unterschwellig immer noch im Verhältnis der europäischen Nachbarn zu Deutschland präsent« sind. Das Thema interessiert mich schon sehr lange, ich habe sogar selbst eine literarische Anthologie zu »Paris unter deutscher Besatzung« veröffentlicht, die aber schon lange vergriffen ist.

Alltagsgeschichte besetzter Gesellschaften: Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des Buchs vor dem Kauf in der Buchhandlung meines Vertrauens bestätigte schnell, das die Historikerin ihre Kapitel wie erhofft eben nicht den einzelnen Ländern widmet, sondern den Alltagssituationen, etwa in »Papiere, Papiere, Papiere« dem ewigen Schlangestehen beim Amt und den »einheimischen Dienern ihrer deutschen Herren«, im Kapitel über die Versorgung geht es um Rationierung, Lebensmittelkarten und Schwarzmarkt, im Kapitel übers Wohnen um Einquartierungen, Beschlagnahmungen, Kälte und den Verlust des Zuhauses. Das Buch beginnt mit dem Vormarsch der Deutschen, Evakuierungen und Flucht, widmet sich den zerrissenen Familien mit abwesenden Männern, der Arbeit für den Feind, den Ausschreitungen und der Gewalt, und in drei großen Kapiteln dem »Dazugehören-Wollen«, dem »Ausgeschlossen-Werden« und dem »Nein-Sagen. Fürs Schreiben ein schwieriger Balance-Akt, denn Besatzung ist einerseits eine europäische Erfahrung, die Millionen Menschen für mehrere Jahre aus ihrem Alltag katapultierte, war andererseits aber nicht überall gleich ausgeprägt, sodass Tönsmeyer in ihrer Studie notwendigerweise dauernd differenzieren muss, um Unterschiede nicht auszublenden.

Europa 1939–1945: Diesem historischen Überblick, der gerade nicht beim Grundsätzlichen bleibt, sondern auf mehr als 500 Seiten (plus 150 Seiten Anhang) erstaunlich in die Tiefe und ins Detail geht, liegt eine immense Recherchearbeit zugrunde. Über die Besatzung und Widerstandsbewegungen in den einzelnen Ländern, über die Vernichtungspolitik der Deutschen und einzelne Aspekte der Besatzungsherrschaft gibt es enorm viele geschichtswissenschaftliche Untersuchungen, außerdem eine Vielzahl von Tagebüchern und Augenzeugenberichten, die Tönsmeyer so kenntnisreich wie lesbar für ihre Untersuchung nutzt und zitiert (für Frankreich kommt als Zeitzeuge für die Sicht der Betroffenen am häufigsten Léon Werth zu Wort, daneben auch Jean Guéhenno, Claude Lanzmann, Irène Némirowsky, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir). Mit ihrem Buch zeigt die Historikerin eindrücklich und erschütternd, wie die deutsche Besatzung das Leben von Millionen Europäerinnen und Europäern veränderte.

Tatjana Tönsmeyer: Unter deutscher Besatzung. Europa 1939–1945, C.H. Beck, München 2024