FRIEDRICH VON BORRIES: ARCHITEKTUR IM ANTHROPOZÄN
Die Bewohnbarkeit der Erde: Der Mensch ist im Lauf des 20. Jahrhunderts zur prägenden Kraft eines neuen Erdzeitalters geworden – des Anthropozän. »Seit 2021 gibt es mehr menschengemachte Masse als lebendige Biomasse«, diesen Fakt führt Friedrich von Borries zu Beginn seines Buchs an, um gleich klarzumachen, welche Verantwortung der Architektur dabei zukommt. Denn mehr als die Hälfte machen Bauwerke aus, und in Folge der wachsenden Weltbevölkerung werden es immer noch mehr. Architektur trägt durch den Ressourcenverbrauch und hohe CO2-Emissionen in der Bauindustrie sowie durch die zunehmende Versiegelung von Flächen in den Städten zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen bei. Zerstörung, die in guter Absicht begangen wurde, denn Architektur will ursprünglich die Welt für die Menschen bewohnbar machen.
Größenwahn: In Saudi-Arabien ist mit »The Line« ein 170 Kilometer langes und 500 Meter hohes Bauwerk als »Stadt« geplant, nur ein Beispiel für eher dystopisch wirkende Architekturkonzepte der Gegenwart. Solche gigantomanischen Projekte finden durchaus Beachtung im Buch, als »Stararchitekten« fragwürdiger Monumentalbauten tauchen etwa Wolf D. Prix, Bjarke Ingels und andere auf. Doch so einfach will es sich Borries, auch selbst Architekt und Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, nicht machen, nur maßlos Übersteigertes, »Wegwerfarchitektur« (Lampugnani) oder den Flächenverbrauch durch Einfamilienhäuser zu verurteilen: Im ersten Kapitel »Zerstörung« unterzieht der Autor ganz systematisch die größten Verursacher von CO2-Emissionen der Kritik: die Bauten der Energiewirtschaft und der Industrie, die Rolle von Mobilität und Wohnen, Landwirtschaft, Handel und Müll – dabei handelt es sich um viele Gebäude, die »in klassischen architekturgeschichtlichen Überblickswerken allenfalls am Rande auftauchen«, wie Kraftwerke, Schlachthöfe, Zementfabriken, Fördertürme, Autobahnkreuze, Müllverbrennungsanlagen. Fast überall gilt das falsche Versprechen, »ökologisch schädliche Handlungen hätten keine negativen Folgen. Statt das verursachende Verhalten zu ändern, werden bloß dessen Auswirkungen unsichtbar gemacht«.
Planung zu Lasten von Natur und Klima: Im Anschluss führt Borries ebenso viele Beispiele auf, die mit viel Optimismus und Zukunftsglauben geplant wurden, sich aber dennoch als Fehlentwicklungen entpuppten. In »Überleben« und »Flucht«, Kapitel 2 und 3 des Buchs, thematisiert Borries die (gescheiterten) Rettungs- und Reparaturstrategien, die Neustart- und Fluchtversuche – angefangen beim Baustoff Beton über Klimaanlagen (die die Innenräume mit künstlich gekühlter Luft versorgen und damit die Außenwelt noch heißer machen), Fassadenbegrünung, Deiche und Schutzwehre gegen den ansteigenden Meeresspiegel bis hin zu schwimmenden Städten für Superreiche und »kosmischem Kolonialismus« im Weltraum, die »auf einer Melange aus chauvinistischen Freiheitsfantasien und kapitalistischem Technik- und Fortschrittsglauben« basieren. Es seien »Prozesse des Verlernens – von Selbstvermarktung, von Wettbewerb, von Technikglauben – [..] notwendig, um Raum für eine neue Architektur zu schaffen«.
Ursachenforschung und Anderswerden: Die Frage nach den Grundlagen stellt Kapitel 4 »Schuld«, und durchaus erwartbar, aber ebenso kundig und lesenswert geht es darin unter anderem um Entfremdung von der Natur (hier gestatte ich mir den Hinweis auf Stefano Mancuso: »Die Pflanzen und ihre Rechte«), um Eigentum am Boden, um Herrschaft und Täuschung. Einige Mut machende Beispiele für eine »planetare Perspektive« zeigt das letzte mit »Hoffnung« betitelte Kapitel. Dass ein Kurswechsel in der Architektur nötig ist, um die Entwicklung umzukehren und unsere Umwelt sozialverträglich und klimafreundlich zu gestalten, macht Borries drastisch deutlich – dazu gehören für ihn mehr Ehrlichkeit, Widerstand und Offenheit.
Die Wochenzeitschrift »Die Zeit« versprach gerade einen Überblick über die 100 besten Bücher des Jahres 2024. Ich weiß nicht, ob »Architektur im Anthropozän« dabei ist, für mich zählt es nicht nur zu den Top Ten, sondern ist das beste Buch des Jahres!
Friedrich von Borries, Architektur im Anthropozän. Eine spekulative Archäologie, Suhrkamp, Berlin 2024