EXPERIMENTELL REISEN: ENTDECKUNGSTOUREN FÜR NEUGIERIGE

Abenteuerlustig unterwegs: Als Erfinder des experimentellen Reisens gilt Joël Henry – der Straßburger Journalist gab 2005 gemeinsam mit Rachael Antony den »Lonely Planet Guide to Experimental Travel« heraus. Darin geht es um eine spielerische Art, neue Orte zu erkunden oder Tourist in der eigenen Umgebung zu sein. Verschiedene Spielregeln entscheiden, wohin man geht – eine Form des Entdeckens, die in Zeiten der Pandemie aktueller war denn je, schließlich war es eine Zeitlang nicht möglich, ans andere Ende der Welt zu reisen. Um inspirierende Orte zu erkunden, blieb nur die nähere Umgebung. Da war diese andere Art zu reisen ein befreiender Spaß.

Stadt und Land: Joël Henry war selbst bewusst, dass seine Ideen eher für die Städteerkundung reizvoll sind. »Ich habe immer in der Stadt gelebt«, sagte er in einem Interview der TAZ, von daher neige er dazu, »in Städtereisen zu denken«. Auf dem Land sind solche Experimente eher Langzeitprojekte – Wandern auf der grünen Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland wie Andreas Kieling (»Ein deutscher Wandersommer« – 1400 Kilometer vom Dreiländereck bis zur Ostsee) oder auf dem früheren Nullmeridian von Paris, wie Emmanuel de Roux, der auf dieser Nord-Süd-Achse vom Ärmelkanal bis zu den Pyrenäen 1350 Kilometer durch Frankreich gewandert ist (»On a marché sur la Méridienne«).

Links und rechts: Eines der simpelsten Spiele ist es, von einem Startpunkt aus in die erste Straße links abzubiegen, die nächste nach rechts, dann wieder links und so weiter. Bis man nicht mehr weiterkommt – weil eine Sackgasse oder das Meer den Weg versperren. Das funktioniert vor allem in größeren Städten, und dort ist es egal, ob man zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs ist. Schöner Nebeneffekt: So entdeckt man selbst seine eigene Stadt oder sogar seine eigene Nachbarschaft ganz neu. In Paris habe ich das schon öfter gemacht, dort versprechen auch Seitenstraßen und abgelegenere Ecken noch echtes Flair. Eine andere Möglichkeit: Einfach der Markierung von einem der Fernwanderwege durch Paris folgen, die die französische Metropole von Nord nach Süd oder in Ost-West-Richtung durchqueren (GR2, TP1).

Alphabet-Reise: Dafür nimmt man sich den Stadtplan und zieht zwischen der ersten Straße, die man mit dem Anfangsbuchstaben A entdeckt, und der ersten Straße mit Z eine Linie. Oder man sucht sich zwei nach Frauen, nach Blumen oder Musikern benannte Straßen – es muss ja nicht immer das Alphabet sein.

Rundherum: Das geht wunderbar in der eigenen Stadt: Auf der Stadtgrenze um Köln, München oder Hamburg wandern. Da Verwaltungsgrenzen in den seltensten Fällen mit Wegen übereinstimmen, muss man hier mit feinmaßstäblichen Karten richtig tüfteln. Wanderführer-Autor Dieter Buck etwa hat mit seinen Stuttgarter »Grenz-Wanderungen« empfohlen, die Landeshauptstadt Baden-Württembergs mal auf ihrer Gemarkungsgrenze zu erkunden. Aber auch die Touristiker haben den Reiz dieser Art des Wanderns längst entdeckt: der GR1 umrundet die Ile de France, der GR 2024 führt als 50-Kilometer-Runde (Fertigstellung bis zu den Olympischen Spielen) rund um Paris ebenso wie der GR75. Die Künstlerin Heike Gallmeier hat für ihr Projekt »Outlines« die deutsche Außengrenze mit einem Transporter bereist und unterwegs spontane Installationen aufgestellt, die sie auf Instagram dokumentiert. Andreas Greve ist »In achtzig Tagen rund um Deutschland« gewandert und hat seine »Grenzerfahrungen« als Buch veröffentlicht.

Retourisme: Man sucht sich einen Ort in der Nähe des eigenen Zuhauses oder auch weit entfernt aus und begibt sich auf schnellstem Weg oder mit dem schnellsten Transportmittel dorthin. Für den Rückweg aber wählt man die langsamste mögliche Art der Heimreise.

Stadtsafari: Beim Gehen durch die eigene oder fremde Stadt hält man Ausschau nach Graffiti oder Gullideckeln, nach verlorenen Gegenständen oder Tieren, alten Ladeninschriften oder Ghost-Signs. Was Thema ist, hängt vom Interesse ab und kann besonders als Fotosafari oder vor allem auch Kindern Spaß machen.

Ziffern zählen: Man sucht sich eine Zahl aus und folgt ihr konsequent – nimmt die Tram, Metro oder S-Bahn Nummer 6 oder die erste Bahn um 18:06 und steigt an der sechsten Haltestelle aus. Das lässt sich auch seriell verfolgen, Annett Gröschner hat es vorgemacht: Ob in New York oder Minsk, Alexandria, Buenos Aires oder Dresden – in jeder Stadt besteigt die »Städtesammlerin« Bus oder Straßenbahn der Linie 4.

Entgegengesetzt reisen: Der eigentlichen Sehenswürdigkeit den Rücken zudrehen und fotografieren, was man dann sieht. So hat sich beispielsweise der Fotograf Oliver Curtis vor die berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Welt gestellt und dann umgedreht: Für seine Serie »Volte-Face« lichtete er vier Jahre lang Touristen-Attraktionen von der »falschen« Seite ab.

Endhaltestellen-Reise: Hier lautet die Regel: »Nimm einen Bus, die U-Bahn oder S-Bahn, deren Linie zu den Vororten führt. Fahre bis zur Endhaltestelle und erkunde den Vorort.« Das hat schon vor über 30 Jahren François Maspero gemacht – ich war eine begeisterte Leserin seines Buchs über die Pariser Banlieue »Les passagers du Roissy Express« (das 1993 auch auf Deutsch erschien: »Roissy-Express: Reise in die Pariser Vorstädte«). Der Autor, auch Journalist und Verleger, stieg allerdings an jeder Station aus und näherte sich mit ethnologischen Methoden der Erkundung der Vororte. Neueren Datums ist das Buch von Anne Weber über ihre Erkundungen der Pariser Banlieue.

© Gabriele Kalmbach

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