ANNE WEBER: BANNMEILEN
Gleich nebenan: Für ihr Buch »Bannmeilen« ist Anne Weber, die in der französischen Hauptstadt lebt, über Hunderte von Kilometern durch das Département Seine-Saint-Denis gewandert, das unmittelbar an Paris »intra muros« angrenzt und dennoch unbekanntes Terrain ist. Denn viele Pariserinnen und Pariser zieht es so gut wie nie in die »Banlieue« jenseits des Périphérique. Mit einem Freund erforscht die Schriftstellerin die trostlosen Vororte im wegen seiner Armut und hohen Kriminalitätsrate berüchtigten »Neuf-trois«, wie das Département mit der Nummer 93 auch genannt wird. Webers Partner auf den ausgedehnten Streifzügen heißt im Buch Thierry und dreht einen Dokumentarfilm über die Olympia-Baustellen. Seine familiären Wurzeln reichen nach Algerien, er selbst ist in dieser Vorstadt geboren und lebt inzwischen in Pantin, die Erzählerin wiederum im 19. Arrondissement.
Ein Banlieue-Klassiker: In den 1990er-Jahren hatte ich das Buch von François Maspero gelesen, »Les Passagers du Roissy-Express«, das mich schwer beeindruckt hat. Schon der Verleger, Journalist und Schriftsteller brach damals in ihm unbekanntes Gelände entlang der RER B auf, seine unterhaltsame und warmherzige, zugleich illusionslose und mit Hintergrundinformationen unterlegte Alltagsgeschichte war damals ein großer Erfolg und wurde auch ins Deutsche übersetzt (Beck & Glückler Verlag, Freiburg 1993). Ich war gespannt, ob Anne Weber es erwähnt, aber selbstverständlich kennt und nennt sie es.
Immigration und Identität: Im Gegensatz zu seinem Vater, der unbedingt ein Franzose sein will, will sich der Filmemacher Thierry seines nordafrikanischen Hintergrunds vergewissern und thematisiert seine ambivalente Position zwischen den Welten, »entre deux ailleurs«, zwischen zwei Woanders: von der Sozialisation ein Franzose, während sein Nachname ihn zum Algerier macht. Die Eindrücke und Vermutungen der Erzählerin kommentiert er mal amüsiert, mal sarkastisch – stellvertretend befragt er sozusagen die Sichtweisen der Erzählerin daraufhin, ob sie genau hinschaut, wo sie als »weiße« Europäerin voreingenommen oder wo sie naiv ist – ein kluges literarisches Stilmittel, das dem »Roman« mit seinen atmosphärischen Impressionen und reportage-artigen Erkundungen zur Selbstreflexion noch eine weitere Ebene hinzufügt.
Exkursionen in Randgebiete: Wo Maspero vor allem viele Menschen getroffen und gesprochen hatte, wandern die Erzählerin und ihr Begleiter scheinbar durch ein Niemandsland, das aus Brachland und abgewrackten Hochhaussiedlungen, vielspurigen Autobahnen und verlassenen Fabriken, Sperrmüllhalden, verwahrlosten Friedhöfen und kleinen Wohnhäuschen, Notunterkünften illegaler Immigranten, Verkehrskreiseln und Baustellen besteht. Nur selten begegnen sie Menschen, obwohl die Banlieue jenseits des Autobahnrings mit Millionen von Einwohnern dicht besiedelt ist. Meist gibt es weder Läden noch Cafés, nur in das Lokal von Rachid, in dem auch Frauen willkommen sind, kehren sie immer wieder ein und lernen das bunte Völkchen, das sich dort regelmäßig trifft, nach und nach kennen. Die literarische Flanerie in Paris hat eine lange Tradition, galt dem Schauplatz von Revolutionen, der Metropole als turbulentem Zentrum der Moderne. Anne Weber hat mit ihrem kartographischen Schreiben ein neues Gebiet vermessen.
Anne Weber: Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen, Matthes & Seitz, Berlin 2024