WEISSDORN IN DER BRETAGNE
Maibaum: »Arbre de mai«, einer der Namen des Weißdorns zeigt an, dass der dornige Strauch seine üppigen Blüten im Mai zeigt. Aubépine ist sein französischer Name, Spern gwenn der bretonische, Crataegus die botanische Bezeichnung. Wie der Apfelbaum und Rosen gehören Weißdorne zur Familie der Rosaceae, die Varietäten der Gattung sind aber selbst für Botanikspezialisten schwer zu bestimmen, weil sie sich leicht miteinander kreuzen. Der Weißdorn wächst nicht nur wild als Strauch oder kleiner Baum inmitten der Küstenvegetation, wo ihm weder Trockenheit noch Wind etwas ausmachen, sondern wurde auch als undurchdringliches Heckengewächs gepflanzt, bevor Drahtzäune und Holzpfähle ihre Aufgaben übernahmen. Bocage heißt diese in der Normandie und der Bretagne typische kleinräumige Landschaftsform mit dichtem Gebüsch als Begrenzung landwirtschaftlicher Äcker und Wiesen. Bei großflächiger Flurbereinigung in den ländlichen Regionen Deutschlands im 20. Jahrhundert wurde ein Großteil solcher Grenzhecken beseitigt (und mit ihnen ein wichtiger Lebensraum für die darin wohnende Fauna wie etwa Schmetterlingsraupen, Vögel und Kleintiere mit hohem ökologischem Wert) – daran erinnern seine ebenfalls gebräuchlichen Bezeichnungen als Zaundorn und Heckendorn.
Langlebigkeit: Der Weißdorn wächst langsam und kann sehr alt werden. Für einen Stammdurchmesser von 25 Zentimetern braucht er ein Jahrhundert – manche bretonischen Exemplare mit deutlich dickerem Stamm haben entsprechend mehr Jahre auf dem Buckel. Er wurde in der Bretagne als Solitär auch gern bei Kapellen, Waschhäusern und anderen Orten gepflanzt, weil der Legende nach in Weißdorn nie der Blitz einschlägt. Auch als Zierbaum ist er in Parks und Gärten trotz seiner rund 2,5 Zentimeter langen Dornen und des angeblich eher unangenehmen Dufts nach Mäuseurin beliebt; ich erinnere mich an eine Damen-Tour ins Allgäu, bei der mich im Mai ebenfalls die Blütenfülle der Weißdorn-Bäume auf einem der Golfplätze mehr als alles andere beeindruckte.
Fleurs d’aubépine: Proust-Enthusiasten wissen, dass der Weißdorn im Romanwerk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ähnlich prominent und leitmotivisch auftaucht wie die berühmten Madeleines. Die Erforschung des Weißdorns bei Proust könne gut und gern zur Lebensaufgabe werden, schrieb die Schriftstellerin Marion Poschmann in der Welt (26. Oktober 2013): »Auch anhand des Weißdorns geschieht das, was für das Werk Prousts das entscheidende Moment darstellt, die unwillkürliche Erinnerung.« 1919 erschien »Im Schatten der jungen Mädchen«, als zweiter Band des siebenteiligen Romanwerks von Marcel Proust (1871–1922), der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde und den Autor berühmt machte. Dort heißt es an einer Stelle: »Plötzlich blieb ich mitten in dem kleinen Hohlwege stehen; bis ins Herz hatte mich eine süße Kindheitserinnerung berührt; denn ich erkannte eben an den gezackten glänzenden Blättern, die bis auf die Schwelle sich vorschoben, ein, leider seit Frühlingsende schon abgeblühtes, Weißdorngebüsch. Rings um mich war es wie Luft von verflossenen Tagen des Mai, des Marienmondes, von Sonntagnachmittagen, von vergessenem Glauben und Irrtum. Ich hätte sie mit Händen greifen mögen. Ich blieb eine Sekunde stehen, und Andrée ließ, mit bezauberndem Ahnungsvermögen, mich einen Augenblick mit den Blättern des Busches mich unterreden. Ich fragte sie, was Neues es von den Blüten gäbe, den Weißdornblüten, die so ähnlich ausgelassenen und fröhlichen jungen Mädchen sehn, die kokett sind und fromm.« (Übersetzung von Walter Benjamin und Franz Hessel, 1927).
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