PASTIS: DER APÉRO SÜDFRANKREICHS
Wer hat’s erfunden? Als Erster hatte der Unternehmer Paul Ricard (1909–1997) kommerziell Erfolg mit Pastis. De facto gibt es diesen Aperitif nur, weil die Franzosen für einen echten Rausch zuvor ein anderes Getränk bevorzugt hatten: Absinth. Dieser Kräuterschnaps war in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert das Getränk der Bohème. Die »grüne Fee«, ein hochprozentiger Alkohol mit Auszügen von Wermut (Artemisia Absinthium), Anis und Fenchel, wurde Kult – auch bei Künstlern wie Vincent van Gogh und Paul Gauguin, Arthur Rimbaud und Oscar Wilde. Auf dem Höhepunkt der Popularität beschrieben Künstler Halluzinationen, Maler wie Edgar Degas und Edouard Manet verewigten heruntergekommene trunkene Menschen im Vollrausch. Die »grüne Fee« stand im Verdacht, aufgrund des enthaltenen Thujons ein Nervengift zu sein und verrückt zu machen, doch vermutlich reichte der Alkoholgehalt von 45 bis zu 89 Prozent für Abhängigkeit, Delirium tremens und andere Folgeerscheinungen aus.
Aperitif anisé: 1915 verbot die französische Regierung den Absinth wegen seiner gesundheitsschädigenden Wirkung. Aus der Not entstand ein neues Getränk: Als ab 1922 Anisliköre ohne Wermutkraut und mit weniger Alkohol wieder erlaubt waren, produzierten mehrere Hersteller »anisées« – sie blieben aromatisch aber hinter dem Absinth zurück, auch der von Jules-Félix Pernod entwickelte Anis. Kein Wunder also, dass der herbere, kräftigere Schnaps von vielen insgeheim vermisst wurde. Paul Ricard experimentierte daher mit Kräutern und Gewürzen und fügte unter anderem auch Sternanis und Süßholz hinzu, um dem verbotenen Absinth nahezukommen. Als 1932 ein 40-prozentiger Alkoholgehalt der Liköre in Frankreich genehmigt wurde (1938 auf 45 Prozent erhöht), konnte Paul Ricard mit seinem Originalrezept eine Firma gründen und den »echten Pastis von Marseille« auf den französischen Markt bringen. So stand das erste Mal Pastis – provenzalisch für Mischung – auf dem Etikett. Heute trinken die Franzosen knapp 68 Mio. Liter »anisées« jährlich (2017, fr.statista.com) – von 90 Mio. Litern weltweit! Unter den Spirituosen liegt Pastis in Frankreich damit hinter Whisky und vor Rum auf dem zweiten Platz.
Dauernd Durst: Auch Kommissar Maigret lockt die Frühlingssonne in der Mittagspause hinaus ins Freie: »Vor dem Essen genehmigte er sich einen Pastis am Tresen.« (Georges Simenon, Maigret zögert). Sein Einstand in der Mordkommission war dagegen mit mehreren Runden »Mandarinen-Curaçao« begossen worden (Maigrets Memoiren). Zum Mittagsaperitif geht er mit seinen Mitarbeitern Lucas und Janvier gern in die Brasserie Dauphine. Ein Lokal dieses Namens hat es in Paris nie gegeben, Simenon ließ sich von der Taverne Henri IV am Pont Neuf inspirieren. In Südfrankreich ist der Pastis die unangefochtene Nummer 1 als Apéro. In den Cafés von Marseille trinken die Einheimischen den Pastis auch als Papagei (= perroquet, mit einem Schuss grünem Minzsirup), als Tomate (mit Granatapfelsirup) oder als Maurin (= mauresque, mit Mandelsirup). Pur trinkt ihn in Frankreich kein Mensch, denn 45 Prozent sind viel zu stark für einen Aperitif – als Mischungsverhältnis empfohlen wird ein Teil Pastis auf fünf bis sieben Teile Wasser. Und, falls vorhanden, ein, zwei Eiswürfel. Zum Aufgießen nimmt man grundsätzlich kein kohlensäurehaltiges Wasser. Und je kälter das Wasser ist, desto besser schmeckt der Aperitif. Sänger und Komponist Serge Gainsbourg bestellte den Pastis am liebsten als »102« – einen doppelten Pastis 51.
Pastis de Marseille: Der Pastis von Pernod trägt den Namen 51, da er 1951 auf den Markt kam, Ricard nannte seine Spirituose Pastis de Marseille. Sie teilen sich bis heute die Marktführerschaft, doch nicht mehr als Konkurrenten, denn seit 1975 gehören beide Marken zum selben Konzern. Heute ist die Ricard-Gruppe, die auch Whisky-, Rum-, Tequila-, Gin- und Wodka-Destillerien, Likör- und Champagnermarken im Portfolio hat, der zweitgrößte Spirituosenhersteller der Welt, hinter dem britischen Konzern Diageo. Bei der Pastis-Produktion beschränken sich die industriellen Großhersteller auf gerade mal fünf bis sechs Kräuter – in einem handwerklich hergestellten Pastis können je nach Rezeptur bis zu siebzig verschiedene Kräuter, Heilpflanzen und Gewürze stecken wie Süßholzwurzeln (Lakritz), Fenchelsamen, Sternanis, Thymian, Oregano, Melisse, Beifuß, Zitronenverbene, Salbei, Muskat und mehr. Die Destillerien halten ihre Mixturen sorgsam geheim, bekannt ist: Anis und Lakritz gehören unbedingt hinein. Kenner schwören auf ihren Pastis wie den »Henri Bardouin« der Distilleries et Domaines de Provence aus Forcalquier oder den Pastis des Homs aus Nant im Aveyron. Eine besonders große Auswahl führt übrigens die Maison du Pastis am Hafen in Marseille. Den ebenfalls beliebten Janot aus Aubagne in der Provence gibt es nicht mehr, der 1928 gegründete Pastis- und Likörhersteller schloss 2018 (der Markenname wurde verkauft). Dabei hieß es doch vielversprechend: »boire un Janot pour rester jeune et beau…«