PARISER BOHÈME: LESETIPPS
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Städten wie Berlin, München und Wien eine künstlerische Subkultur – die »Boheme« stand durch ihren freizügigen Lebensstil und ihren rebellischen Geist am Rand der bürgerlichen Gesellschaft. Verheißungsvoll erschien den jungen Menschen vor allem die französische Hauptstadt – »Paris magnétique« übte eine ganz besondere Faszination aus. Vielleicht würde man sich hier als Künstler durchsetzen können? Zwar eröffnete die Großstadt auch Frauen neue Perspektiven, doch die Hoffnung auf Erfolg beflügelte vor allem Männer.
Scènes de la vie de Bohème: Die »Szenen aus dem Pariser Leben« von Henri Murger (1822–1861), zunächst ab 1847 als lose verknüpfte Feuilletonserie in einer literarischen Zeitschrift erschienen, und vom eigenen Leben inspiriert, stehen am Anfang des Bohème-Mythos. Murgers Zeitgenossen könnten die realen Personen hinter dem glücklosen Dichter Rodolphe, dem Musiker Schaunard, dem Maler Marcel und dem Bildhauer Jacques womöglich entschlüsselt haben. Erst durch eine Bühnenfassung von 1849 erlangten die Erzählungen Popularität, und Murger erstellte aus den veröffentlichten Episoden über die Pariser Bohème des Quartier Latin eine Buchversion, die um ein Vorwort ergänzt 1851 erschien. Als Anregung für die 1896 uraufgeführte Oper »La Bohème« von Giacomo Puccini gilt das Buch seither erst recht als eine Art Prototyp der Bohème-Literatur. Die Oper machte den Stoff weltberühmt und zog bis heute viele weitere Bearbeitungen und Verfilmungen nach sich.
Im Vorwort schreibt Murger: »La Bohème, c’est le stage de la vie artistique: c’est la préface de l’Académie, de l’Hôtel-Dieu ou de la Morgue. Nous ajouterons que la Bohème n’existe et n’est possible qu’à Paris.« (Bnf Gallica) Die Bohème ist die Lehrzeit des Künstlers: Sie sei die Vorstufe zu öffentlicher Anerkennung, zum Hospital oder Leichenschauhaus. Obwohl Murger weiter erläutert, die Mehrheit der Künstler bliebe Hungerleider, sterbe am Elend und die Bohème sei eine Sackgasse, romantisieren seine Szenen das Künstlerleben. Bedrückende Geldnot zwingt sie zu häufigen Wohnungswechseln, wird doch mal ein Bild verkauft, wird das Eingenommene gleich fröhlich verprasst. Seine Protagonisten haben »das Pumpen zur Höhe einer Kunst erhoben« – Martin Mosebach schrieb in einer Rezension: »Auf jeder Seite, auch den gefühlvollsten, ist irgendwie von Geld die Rede. Das Geldzusammenkratzen hält die Bohémiens derart in Atem, dass sie eigentlich genauso gut irgendetwas arbeiten könnten.«
Henri Murger: Bohème. Szenen aus dem Pariser Leben, aus dem Französischen von Inge Linden, Steidl Verlag, Göttingen 2001
La Négresse du Sacré-Coeur: Vom Quartier Latin verlagerte sich der Schwerpunkt der Bohème in den 1870er-Jahren nach Montmartre. Auf der Anhöhe dieser zehn Jahre zuvor gerade erst eingemeindeten Vorstadt standen noch einige Windmühlen wie auch zahlreiche ärmliche Hütten, fast eine Art Slum, der bezahlbaren Atelier- und Wohnraum bot. Beliebte Anlaufpunkte für Pariser Ausflügler wie für die Künstler waren zudem die Guinguettes, Varietés, Tanzlokale und Kabaretts. In seinem 1920 erschienenen Roman schildert André Salmon (1881–1969) das Bohème-Leben von Picasso, Max Jacob und sich selbst am Montmartre – zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Salmon in das Atelierhaus Bateau-Lavoir gezogen, wo die beiden ebenfalls lebten. Bei seinem Erscheinen wurde zwar das Dokumentarische des Buchs gelobt, doch heute überwiegen Exotismus und Elemente des Spannungsromans den Lektüre-Eindruck. In einem später entstandenen Nachwort erläuterte der Autor, was im Schlüsselroman als Fakt und was als Fiktion zu lesen sei. Der in Paris geborene Dichter hatte als Teilnehmer an literarischen Zirkeln im Quartier Latin auch Guillaume Apollinaire kennengelernt, mit dem ihm einen lebenslange Freundschaft verband, als Kunstkritiker wurde er einer der Fürsprecher des Kubismus.
André Salmon, La Négresse du Sacré-Coeur, Gallimard, Paris 2009
La Cité des Peintres: Ein junger Mann aus Osteuropa kommt nach Paris, einer von Tausenden, den die Strahlkraft der europäischen Kunstmetropole anzieht. »Sechzigtausend Maler in Paris. Wie viele sind anerkannt, bekannt, wie viele halten sich für bedeutend, für nützlich? Wie viele sind es, die von ihrer Malerei leben können? Pech gehabt mit unserem Werk, Pech gehabt mit unserem Leben«. Die hungerleidende Künstlerschar wird in »Das Viertel der Maler« nicht romantisiert, lakonisch und nüchtern schildert der Autor Libertinage und Lotterleben, Mietrückstand und Flucht vor Gläubigern, künstlerische Selbstzweifel, die Arbeit im Atelier und die Geselligkeit in den Cafés, die Nöte der Immigranten und die Niederlagen bei der Suche nach künstlerischer Anerkennung. Gemalt wird auf alte abgewaschene Leinwände vom Flohmarkt. Wenn das Geld nicht fürs Essen reicht, wird der Hunger mit Alkohol betäubt. »Ich hatte vor allem abends Hunger, kurz vor dem unausweichlichen Wunder, daß ich jemanden fand, den ich um ein paar Francs anhauen konnte. Sonst mußte man die Stunde dieser großzügigen Säufer abwarten, die einen ausgeben, die zu rauchen anbieten und niemals nur einen Sou für ein Croissant ausgeben. Der Alkohol ist ja nahrhaft.« Trotz aller Trinkgelage überwiegt die Erfahrung von Entbehrung den Alltag, ständig muss man Bekannte um den letzten Sou oder etwas Tabak anpumpen und einen Schlafplatz ergattern. Das Leben in Armut am Rande der Gesellschaft endete mit Krankheit oder Tod, Ruhm war nur wenigen vergönnt.
Als Joseph Constantinovsky (1892–1969) wurde der Bildhauer und Schriftsteller in Jaffa geboren und wuchs als Kind in Odessa auf. Nach einem Pogrom, bei dem Bruder und Vater ermordet wurden, floh er nach Palästina und ging 1923 nach Paris. Zunächst malte Constant, später machte er sich als Bildhauer von Tierskulpturen einen Namen und begann auch zu schreiben, von Beginn an auf Französisch und unter dem Pseudonym Michel Matveev. Nach dem Ersten Weltkrieg zog es viele Künstler vom Montmartre nach Montparnasse. Dort lebte Constant im Kreise ebenjener Bohème, aus der Künstler wie Chagall, Modigliani und Soutine hervorgegangen sind, die wie er aus ihrem jüdischen Umfeld nach Paris geflüchtet waren. Am (damaligen) Stadtrand hatte der etablierte Pariser Bildhauer Alfred Boucher ein Atelierhaus geschaffen, die »Ruche« (den Bienenkorb). Dafür hatte er einen Rundbau von der Weltausstellung 1900 auf einem Grundstück wiedererrichten lassen, die titelgebende »Cité des Peintres« des Romans, der 1947 erschien.
Michel Matveev, Das Viertel der Maler, aus dem Französischen von Rudolf von Bitter, Weidle Verlag, Bonn 2016
Les Montparnos: Der Pariser Journalist, Maler und Übersetzer Michel Georges Dreyfus (1883–1985) nannte sich als Autor Michel Georges-Michel. Unter seinen mehr als hundert Romanen, Erinnerungsbänden, Kunstbüchern und Bühnenstücken ist sein 1923 geschriebener und 1929 erschienener Erfolgsroman »Die von Montparnasse« das bekannteste. Inhaltlich inspiriert von der Geschichte von Amedeo Modigliani und Jeanne Hébuterne, die als Modrulleau und Haricot-Rouge im Buch erscheinen, legt der Autor doch Wert darauf, dass es sich um Kunstfiguren handele. Viele weitere Protagonisten erscheinen mit Klarnamen, die Maler Kisling und Picasso, der Dichter Cendrars, der Komponist Stravinsky, der Ballett-Impresario Djagilew und das Aktmodell Kiki beispielsweise. »Die Nächte sind ein endloser, fiebriger, ausschweifender Rausch, die Tage verbringen viele von ihnen in kärglichen Kellerateliers, ausgemergelt und ausgebeutet wie Tagelöhner. Um sie herum Intellektuelle, Träumer, Literaten, Strichjungen, Tänzerinnen und Verrückte aus aller Herren Länder, angezogen von einer Stadt, die endlich ihren Lebenshunger stillt. Georges-Michel wählte für seine Schilderungen die Romanform, entspann Fiktives und verknüpfte es mit Gesehenem, Selbsterlebtem und seiner intimen Kenntnis der Pariser Kunstszene.« (Vorschautext). Der Autor hatte selbst Kunst an der Ecole des Beaux Arts studiert, Picassos erste Ausstellung in Rom initiiert und für die Biennale in Venedig gearbeitet. Sein auch ins Deutsche übersetzter »Roman über die Pariser Großstadtboheme« wurde von Max Ophüls und Jacques Becker verfilmt.
Michel Georges-Michel, Die vom Montparnasse, aus dem Französischen von Marcus Seibert, Walde+Graf Verlag, Zürich 2010
Freiheit, Rausch und schwarze Katzen: In seiner »Geschichte der Boheme« porträtiert Andreas Schwab Maler und Literaten, von Edvard Munch über August Strindberg bis zu Franziska zu Reventlow und Else Lasker-Schüler. Dabei interessieren ihn nicht nur die Männer und Frauen und ihr Lebensstil, sondern auch die Orte, an denen sie sich trafen, wie das Kabarett »Elf Scharfrichter« in München und das »Chat Noir« in Paris – wie auch schon in seinem vorherigen Buch »Zeit der Aussteiger« über Künstlerkolonien. Das Thema Bohème legt Schwab dabei in seinem Sachbuch recht weit aus, schreibt auch über Anarchisten und Gartenstädte, Nietzsche und Marx, Dekadenz-Literatur, naturalistisches Theater und die Erfahrung des Ersten Weltkriegs.
Andreas Schwab, Freiheit, Rausch und schwarze Katzen. Eine Geschichte der Boheme, C.H. Beck, München 2024
Dix ans de bohème: Ein Mitorganisator im 1881 eröffneten Kabarett »Chat Noir« am Montmartre war der Journalist Emile Goudeau (1849–1906), zuvor hatte er mit weiteren Schriftstellern schon den literarischen Künstlerclub »Cercle des Hydropathes« im Quartier Latin gegründet. Man traf sich im Café, um Poesie und Prosa vor großem Publikum vorzutragen, dabei wurde ordentlich gebechert. Außer Wein trank man Absinth, eine hochprozentige Spirituose auf Wermutbasis, auch die grüne Fee genannt, die 1914 in Frankreich verboten wurde. Weil die Abende häufig in exzessive Trinkgelage ausarteten, gab es Konflikte mit der Nachbarschaft, sodass Goudeau seine literarische Freitage ins Chat Noir verlegte. 1888 erschien sein Memoirenband »Dix ans de bohème« (online über die französische Nationalbibliothek zu lesen). Begraben wurde Goudeau auf dem Friedhof Saint-Vincent im Montmartre-Viertel, wo auch ein Platz nach ihm benannt wurde.
Emile Goudeau, Dix ans de bohème, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k109158q/f1.item