AUSSTELLUNG IN BERLIN: PARIS MAGNETIQUE

Magnet Paris: Schon vor dem Ersten Weltkrieg, nicht erst in den »Goldenen Zwanzigern«, übte Paris eine enorme Anziehungskraft auf Künstler aus aller Welt aus. Viele Juden aus den Ländern Osteuropas flohen zudem vor Antisemitismus und Pogromen in die französische Hauptstadt und genossen die Freiräume und Chancen, die sich ihnen in Frankreich boten, ebenso wie die Gemeinschaft der Bohémiens in den Cafés und Lokalen. Das Jüdische Museum Berlin zeichnet ihre Schicksale nach in einer Schau, die 2021 schon im Musée d’Art et d’Histoire du Judaisme in Paris zu sehen war (25. Januar bis 1. Mai 2023). Zehn locker chronologisch gegliederte »Kapitel«, von Kuratorin Pascale Samuel in Paris entwickelt und von Shelley Harton nach Berlin übertragen, widmen sich jeweils thematischen Aspekten – etwa der Verlagerung der Kunstszene vom Montmartre nach Montparnasse oder dem dort gegründeten Atelierhaus »La Ruche« (Der Bienenkorb), den »Années folles« (den wilden Zwanzigerjahren) und der »Grande Guerre« (dem Ersten Weltkrieg). Über rund drei Jahrzehnte, von 1905 bis zum Jahr 1940, als deutsche Truppen Paris besetzten, dokumentiert die Ausstellung »Paris Magnétique« den herausragenden Beitrag jüdischer Künstlerinnen und Künstler zur Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ecole de Paris: Mit den mehr als 120 Werken – Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien von rund 40 Künstlerinnen und Künstlern der jüdisch-kosmopolitischen Avantgarde – bietet die Ausstellung einen ständigen Wechsel aus Wiederbegegnung und Neuentdeckung. So ist unter den Exponaten auch eines meiner Lieblingsbilder aus der Orangerie in Paris vertreten: »La jeune Anglaise« von Chaïm Soutine (1893–1943). Ein anderer prominenter Leihgeber ist das Centre Pompidou, etwa für »Les Trois Poètes« von Louis Marcoussis (1878–1941), das Guillaume Apollinaire, Max Jacob und André Salmon zeigt. Neben Werken noch heute berühmter Maler und Bildhauer, denen zahlreiche Monographien und teils eigene Museen gewidmet sind – wie Amedeo Modigliani, Marc Chagall (in Nizza) oder Ossip Zadkine (in Paris) – hängen Exponate unbekannterer Namen, Michel Kikoïne, Pinchus Krèmègne, Morice Lipsi, Oser Warszawski und weitere. Es ist das Verdienst der Ausstellung, damit Netzwerke, Verbindungslinien und wechselseitige Beziehungen im Pariser Künstlermilieu sichtbar zu machen, die weniger vertraut sind. Wie so oft in der Kunstgeschichte, sind allerdings auch hier die Männer in der Überzahl.

Biografien: Lesenswert sind die sehr informativen Erläuterungen zum historischen Kontext, man nähert sich jedoch jedem biografischen Text mit der Hoffnung, Jahreszahlen für den Tod zu lesen, die jenseits der 1940er-Jahre liegen. Eine Hoffnung, die nur allzu oft enttäuscht wird: Nach der deutschen Besetzung von Paris können Chagall, Kisling und Lipchitz nach New York ins Exil flüchten, viele andere werden deportiert und in den Konzentrationslagern ermordet. Der Krieg setzt der Ecole de Paris ein Ende: Als Schlusspunkt erinnert die Ausstellung an die zu Tode gequälten Künstler, und eine Bildwand mit Fotografien von Marc Vaux zeigt verschollene Werke, die während der Besatzungszeit geraubt oder zerstört wurden. Empfehlenswert zur Vertiefung ist der im Wienand-Verlag erschienene Katalog.

 

 

Künstlerinnen: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Paris die erste Adresse, um Kunst zu studieren, in Gemeinschaftsateliers zu arbeiten und in der kosmopolitischen Kunstszene Kontakte zu Kollegen, Galeristen und Mäzenen zu knüpfen – auch für aufstrebende junge Frauen, denen es anderswo noch schwerer gemacht wurde, ernsthafte künstlerische Ambitionen zu verwirklichen.

Mit Werken vertreten ist etwa Sonia Delaunay (1885–1979), gleich am Beginn der Ausstellung hängt ihr Gemälde »Philomène«, eine Frauenfigur in leuchtend-roter Bluse, mit flächigem Blumenhintergrund. Die in Odessa in der heutigen Ukraine geborene und im zaristischen Russland in Sankt Petersburg aufgewachsene Künstlerin überlebte den Naziterror in Südfrankreich und starb 1979 mit 94 Jahren in Paris. Die universal begabte Designerin entwarf auch Mode, Textilien und Inneneinrichtungen, Werbe- und Buchkunst. Ich hatte das Glück, im Winter 2014/2015 eine große Retrospektive im Musee d’Art Moderne de la Ville de Paris zu sehen (Les couleurs de l’abstraction). Noch bis zum 23. Februar zu sehen ist in Krefeld die Ausstellung »Maison Sonia« im Haus Lange. Der ebenfalls empfehlenswerte Begleitband ist im Verlag Hatje Cantz erschienen.

Louise Albert-Lasard (1885–1969), nur deswegen keine Französin, weil ihr Geburtsort Metz 1885 damals zum Deutschen Reich gehörte, hielt das Pariser Nachtleben am Montmartre in einer Reihe von Lithografien fest. 1928 kann sie es durch eine Erbschaft leisten, ganz nach Paris überzusiedeln. In den 1930er-Jahren reiste sie viel mit ihrer Tochter, bis nach Asien und Nordafrika. Nach der Internierung im Lager Gurs überlebten sie und ihre Tochter in einem Unterschlupf in der Auvergne. Ihren künstlerischen Nachlass erhielt das Musée d’Art Moderne in Straßburg, begraben wurde sie auf dem Montparnasse-Friedhof in Paris.

Eine echte Entdeckung für mich ist die Bildhauerin ukrainischer Herkunft Chana Orloff (1888–1968) mit Skulpturen wie »Sérénité«. Die zum Montparnasse-Kreis gehörende Künstlerin studierte an der Akademie von Marie Vassilieff und wurde zu Beginn der 1920er-Jahre zur Porträtistin der Pariser Künstlerfreunde und vieler namhafter Zeitgenossen. Eine Gipsbüste stellt das Porträt der Madame Bloch-Serruys dar, einer bekannten Salonnière, Übersetzerin und Literaturagentin, eine weitere die Schriftstellerin Anaïs Nin. Es gelang Orloff 1942, mit ihrem Sohn in die Schweiz zu fliehen. Nach der Rückkehr nach Paris fand sie ihr Atelier in der Villa Seurat geplündert vor, etwa hundert ihrer Skulpturen waren zerstört oder verschwunden wie ihre Möbel. Das Atelier ist heute mit Führung zu besichtigen (www.chana-orloff.org).

Alice Halicka (1894–1975) wuchs in Wien und Krakau auf und kam 1912 nach Paris. Ein Jahr später heiratete sie ihren Malerkollegen Louis Marcoussis, polnischer Herkunft wie sie selbst. Obwohl ihr Mann der Ansicht ist, ein Kubist in der Familie reiche, arbeitet sie – sozusagen unter erschwerten Bedingungen – weiter künstlerisch, illustriert mehrere Bücher und entwirft in New York zwei Bühnenbilder für die Metropolitan Opera.

Marevna ist der Künstlername von Maria Worobjowa (1892–1984). Das während des Ersten Weltkriegs entstandene, kubistisch geprägte »La Mort et la Femme« (Der Tod und die Frau) zeigt ein Skelett in Soldatenuniform und eine Frau mit Gasmaske. Auch sie versteckt sich in Südfrankreich, zieht nach dem Zweiten Weltkrieg nach London, in den 1960er-Jahren zurück nach Paris.

Die Fotografin Marianne Breslauer (1909–2001) gehört schon einer neuen Generation an, als eine der wenigen in der Ausstellung vertretenen Künstler ist sie nach 1900 geboren. Nach einer Anstellung als Fotoreporterin für den Ullstein-Verlag in Berlin ist sie kurze Zeit in Paris freischaffend tätig, zieht aber nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1936 nach Amsterdam und 1939 nach Zürich, wo sie auf eine zweite Laufbahn als erfolgreiche Kunsthändlerin zurückblickt, als ihre Arbeiten aus den 1930er-Jahren wiederentdeckt werden. Wie die Arbeiten von André Kertész trugen ihre Fotografien maßgeblich zum Mythos der Pariser Zwanzigerjahre bei.

Die Malerin Mela Muter (1876–1967) war eine der ersten Künstlerinnen der polnischen Diaspora in Paris. Zuvor schon regelmäßig bei den großen Pariser Salons und im Ausland mit Werken vertreten, erlangte sie in den 1920er-Jahren weitere Bekanntheit durch ihre Porträts namhafter Schriftsteller, Musiker, Politiker und Maler. Während des Kriegs versteckte sie sich in Südfrankreich und kehrte nach der Befreiung von Paris dorthin zurück.

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