24 STUNDEN IN NANTES
Happy Birthday: Ein Geschenkgutschein zu einem Geburtstag noch vor der Pandemie, endlich eingelöst: ein Wochenende in einer Stadt meiner Wahl. Wer jetzt denkt, es ginge nun nach Wien, Tel Aviv oder Tallinn – nein, ich habe mir Nantes ganz im Westen Frankreichs ausgesucht, schon lange ein Wunschziel. Die im Mündungsgebiet der Loire, allerdings knapp 60 Kilometer entfernt vom Atlantik gelegene Stadt ist nicht zuletzt durch ihren Kunstsommer, der als »Le Voyage à Nantes« firmiert, eine lebendige Metropole mit regem Kulturleben. Und dank der Universität eine junge Stadt, was sich im Ausgehviertel Bouffay abends gut beobachten lässt – unter den knapp 320.000 Einwohnern sind fast 60.000 Studentinnen und Studenten. Mehr als ein Drittel der Nanteser sind unter 25, die Bevölkerung gehört zu den jüngste Frankreichs Wir waren entlang der grünen Linie auf Entdeckungstour unterwegs und haben dabei in Highlights wie dem Jardin des Plantes, der Passage Pommeraye und der Markthalle des Marché de Talensac Pausen eingelegt (hier mit eigenen Beiträgen im Blog vertreten).
Vom Schloss zur Keksfabrik: Anne de Bretagne hat uns schon vor dem Eingang zu ihrem Schloss empfangen. Das Château der Herzöge der Bretagne erinnert daran, dass Nantes die historische Hauptstadt der Bretagne war – aktuell gibt es Überlegungen, das Département Loire-Atlantique wieder an die Bretagne anzugliedern (derzeit ist es Teil der Region Pays de la Loire). Da wir einen absoluten Hitzetag erwischt hatten, war der Miroir d’Eau, der Wasserspiegel vor dem Schloss, schon morgens eine willkommene Erfrischung für einige Kleinkinder – wir haben uns erst ein Stück weiter auf der Terrasse des Lieu Unique »gewässert«. Wie gut gekühltes Mineralwasser schmecken kann, merkt man ja erst so richtig bei 38 °C. Was heute Lieu Unique heißt und ein Kulturzentrum ist, war früher eine Keksfabrik. Das 1846 als Patisserie gegründete Unternehmen LU (Lefèvre Utile) entwickelte sich dank des erfolgreichen Butterkekses »Petit Beurre« zur Großbäckerei, später wurde das Familienunternehmen Teil großer Lebensmittelkonzerne. Den noch existierenden Turm der historischen LU-Keksfabrik kann man besichtigen.
Stressfrei unterwegs: Der Anschluss an das französische Fernverkehrsnetz mit einer schnellen Verbindung nach Paris hatte Teil am Wiederaufstieg von Nantes. Durch den neuen, im November 2020 eingeweihten Bahnhof von Rudy Ricciotti ging es weiter zum Jardin des Plantes – wie eine Brücke verbindet die verglaste Empore das Euronantes-Viertel mit der Innenstadt, und vom Ausgang sind es nur ein paar Schritte ins Grün des botanischen Gartens (was mich an Karlsruhe erinnerte, wo mich das Grün am Bahnhof mindestens ebenso überraschte). Der Architekt, dem für das Musée de la Méditerranée in Marseille und weitere Museumsbauten viel Lob gezollt wurde, versah die 160 Meter lange Halle mit baumförmigen Pfeilern aus weißem Beton und versteht seinen Entwurf als »antichambre d’un ailleurs«, als Vorzimmer eines Anderen, das einen neuen Begriff vom Reisen vermittle. Das hört sich auf Französisch so hochtrabend an wie im Deutschen, doch abgesehen davon hat Nantes einen städtebaulich gelungenen Wurf hinzugewonnen.
Weitsichtig: Im Zentrum hat uns auch die Tram gute Dienste geleistet. In Nantes liegt die Wiedereinführung der Straßenbahn, die Mitte des 20. Jahrhunderts abgeschafft worden war, schon Jahrzehnte zurück: 1985, als Nachhaltigkeit und Klimaschutz noch nicht ganz so brennend aktuell waren wie heute, war sie die erste Neuanlage Frankreichs. Inzwischen haben mehr als zwei Dutzend Städte – von Avignon über Bordeaux und Paris bis Straßburg – neue Straßenbahnlinien gebaut und für eine echte Renaissance der Tram gesorgt.
Eine Insel ohne Berge: Die große Ile de Nantes wird von zwei Flussarmen der Loire umrahmt. Mit Sklavenhandel nach Amerika war die Stadt im 18. Jahrhundert wohlhabend geworden, bevor Schiffsbau und Überseehandel mit exotischen Waren für Arbeit und Einnahmen sorgten. Als die Bedeutung als Seehafen mit immer größeren (Container)Schiffen und Frachtern abnahm, stürzte der Niedergang der Werftindustrie die Stadt in eine wirtschaftliche Krise. Schienen, Laderampen, Werftkräne und das Gebäude der Ateliers et Chantiers de Nantes erinnern an diese Vergangenheit der Insel als Industriestandort. Und wo früher die Schiffe zu Wasser gelassen wurden, wachsen heute die Palmen des Parc des Chantiers. In den ehemaligen Alstom-Werkshallen eröffnete die Magmaa Food Hall, im umfunktionierten Bananen-Hangar an der Westspitze der Insel kamen ebenfalls Restaurants unter. Das Ausstellungsprojekt »Machines de l’île« entführt in ein Universum, dessen mechanisierte Fabelwesen aus den Romanen von Jules Vernes stammen könnten oder an die Optik von Steampunk erinnern. In der alten Werfthalle ist tierisch was los: Zum Maschinenpark gehört ein 12 Meter hoher Elefant, der sich regelmäßig in Bewegung setzt und rund 50 Passagieren Platz bietet. Uns hat vor allem das gigantische Immobilienprojekt beeindruckt und bestürzt. Aus einstiger Industriebrache werden wie in Marseille oder Bordeaux komplett neue Büro- und Wohnviertel – zudem zogen das Palais de Justice (ein Entwurf des Architekten Jean Nouvel), die Ecole des Beaux Arts und die Ecole d’Architecture auf die Ile de Nantes, die sich so zum Kulturlabor entwickeln soll. Mehr als 10.000 Wohnungen zusätzlich erhält die Atlantik-Metropole auf der 460 Hektar großen Loire-Insel, denn Nantes rechnet mit weiterem Zuwachs an Einwohnern bis 2030. Der gute Wille ist zu erkennen, beim Ausverkauf von Grund und Boden nicht nur seelenloser Investorenarchitektur das Feld zu überlassen.
Mittagessen und Apéro: Für eine Pause zwischendurch haben wir die Terrasse des »Lieu Unique« am Bassin Saint-Félix angesteuert und das Café de l’Orangerie im botanischen Garten. Mittagessen gab es im Lamacotte, das ich nach langer Recherche (auf der gut gemachten Website des Office de Tourisme und im Michelin) ausgesucht hatte, weil die Speisekarte äußerst attraktive vegetarische Gerichte ankündigte – ein Volltreffer, es war ganz hervorragend. Abends haben wir noch den lokalen Muscadet in einer Weinbar mit ausgesprochen kundigem Wirt probiert. Muscadet – nicht zu verwechseln mit der Rebsorte Muscat – ist der Name eines Weinbaugebiets an der Loire bei Nantes, genauer gesagt der Appellation Muscadet Sèvre et Maine. Der Weißwein wird aus der Rebsorte Melon de Bourgogne hergestellt und besonders gern zu Austern getrunken.