TYPOTRAVELETTE UNTERWEGS: STADTSCHRIFT-MAUERSCHAU IN WIEN

Zeitschichten: Alte Fassadenbeschriftungen verschwinden langsam, aber sicher, der stete Wandel verändert unser urbanes Umfeld tagtäglich. Neben verblassten Reklamen auf Häuserwänden gehören dazu auch demontierte Schriftzüge ehemaliger Geschäfte – »was heute noch den Alltag prägt, kann morgen bereits abmontiert und vergessen sein«. Und durch den Strukturwandel und die globale Verbreitung großer Konzerne und Handelsketten sind leider in immer mehr Städten nur die ewig gleichen Schriftzüge und Logos zu sehen. Buchstaben und Beschilderungen verschwinden nicht nur aus dem Stadtbild – was aus dem Blick gerät, lässt auch Erinnerungen verloren gehen… »Was nachfolgt, ist buchstäblich schnelllebiger, billig produziert und ästhetisch oft unbedarft. Handwerkliches Können, einst Grundlage typografischer Qualität, spielt im Regelfall schon lange keine Rolle mehr.« Dabei spiegelt Typografie die Unverwechselbarkeit und Identität einer Stadt auf ganz eigene Art wider. Jeder Schriftzug erzählt eine Geschichte, lässt Epochen und Moden erkennen, ist aber ein flüchtiger Zeitzeuge, von Übermalung oder Demontage bedroht.

Die »Handschrift« Wiens: An einer Brandmauer am Ludwig-Hirsch-Platz im Karmeliterviertel sind Schriftzüge alteingesessener Betriebe zu sehen, die nach Geschäftsaufgabe demontiert und gerettet wurden. Nichts von ihrem Charme eingebüßt haben die originale Beschriftung einer Gaststätte, Kleiderreinigung und eines Goldschmieds, weitere erinnern an Läden für Tabak, Weinbrand, Obst u. Gemüse oder Kaffee. Um die buchstäblichen Spuren früherer Zeiten zu bewahren, gibt es Fotoprojekte wie das der Ghostletters Vienna und Organisationen, die alte Schriftzüge aus dem öffentlichen Raum vor dem Schrottplatz retten – etwa das Buchstabenmuseum in Berlin und Stadtschrift in Wien, ein 2012 gegründeter »Verein zur Sammlung, Bewahrung und Dokumentation historischer Fassadenbeschriftungen« (die Zitate stammen von der Website des Vereins). Weitere Mauerschauen von Stadtschrift finden sich beispielsweise in der Hofmühlgasse und im Carré Atzgersdorf.

Typotravelette unterwegs: Was ist ein Denkmal, und was sollte im Rahmen von Modernisierung erhalten bleiben? Nur selten geraten Schriftzüge als Teil der Stadtgeschichte in den Blick des Denkmalschutzes, einige Ladeninschriften in Paris oder eine Kölsch-Leuchtreklame in Köln zählen zu den Ausnahmen. Schriften und Beschilderungen sind allgegenwärtig und prägen Orte auf subtile und doch eindrückliche Weise. In den Straßen, auf Verkehrsmitteln, Ladenschildern, den Fassaden von Cafés und Restaurants, auf Mauern und Werbeplakaten: Jede Stadt hat ihre ganz eigene urbane Typografie. In Metropolen wie Wien oder Paris vermischen sich verblasste Reklameschriftzüge und Mosaike mit nostalgischem Retro-Charme, traditionelle Restaurant- und Ladeninschriften und historische Stadttypografie mit urbaner Streetart, Neon-Zeichen, modernen Markensignets und Leitsystemen oder Wegbeschilderungen.

Wien Typo Karmelitermarkt
© Gabriele Kalmbach
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