PARIS BEI REGEN
Schönwettermalerei? »Rue de Paris, temps de pluie«, Paris an einem regnerischen Tag zeigt ein bekanntes Gemälde von Gustave Caillebotte (1848–1894). Im Vordergrund ein angeschnittener Passant mit Zylinder in Rückenansicht, daneben kommt uns frontal ein Paar nahezu lebensgroß entgegen, im Hintergrund überqueren mehrere Personen die Straße – und alle sind mit Regenschirm unterwegs. Das Gemälde aus dem Jahr 1877, eines der Aushängeschilder des Art Institute of Chicago, gehört zu den bekanntesten der insgesamt rund 500 Werke des impressionistischen Malers. Man sieht die Bewegung auf seinen Bildern, zu seiner Zeit neu und ungewöhnlich, im Rückblick wurden gemalte Momentaufnahmen als charakteristisch für den Impressionismus wie die Großstadtmalerei erkannt. Caillebottes Meisterschaft in der Darstellung von Licht zeigt sich hier in den Spiegelungen auf den regennassen Pflastersteinen. Seine Straßenszene, für die der Künstler zahlreiche Vorstudien und präzise Perspektivskizzen anfertigte, steht für das neue Sehen der Impressionisten – die frappierende Unmittelbarkeit des Motivs ebenso wie die urbane Szenerie. Gerade dass viele seiner Impressionisten-Kollegen (die Caillebotte als Mäzen großzügig unterstützte) vor allem flirrendes Sonnenlicht und den ewig blauen Himmel des mediterranen Südens malten, zeigt Caillebottes herausragende Stellung. Auch weitere seiner Stadtansichten dokumentieren Haussmanns fundamentale Umgestaltung der Metropole und zeigen den rasanten Wandel des Stadtraums wirklichkeitsnah, mit einer über den Impressionismus hinausgehenden Realistik (mein Lieblingsbild »Boulevard vu d’en haut« von 1880 zeigt das typische Stadtmobiliar – eine Bank und einen Laubbaum mit gusseisernem Baumschutzgitter).
Urbaner Regen: »Paris ist auch an Regentagen eine Stadt wie aus dem Bilderbuch«, kommentiert ein Museumstext das ausgestellte Werk »Blick auf den Pont Marie« (1910) von Rudolf Levy (in der Ausstellung »Paris magnétique«). Der städtische Regen verfinstert die Welt nicht wie auf dem Land, sondern erfüllt sie im Gegenteil mit Glanz. Dem Regen-Exkurs in Rolf Lindners Anthropologie der Stadt verdanke ich den Hinweis auf Pierre Sansot (1928–2005) und dessen Definition der »pluie urbaine« in seiner »Poetik der Stadt«. Dort verwandelt der Regen Oberflächen in Spiegel, visuelle Effekte lassen selbst Asphalt blinken und blenden wie Neonlicht, die Farben leuchten: »Dans une ville la pluie fait resplendir davantage certaines couleurs« (S. 593).
Früh erkannten auch die Fotografen das »ästhetische Potenzial schlechten Wetters« (den schönen Begriff verwendet die Kunsthistorikerin Monika Wagner in Aufsätzen wie »Regen und Rauch«, 2016, und »Landschaft im Regen«, 2018, allerdings in Bezug auf die Landschaftsmalerei). In den 1920er-Jahren kam Brassaï (1899–1984) aus Ungarn über Berlin nach Frankreich, flanierte durch die pulsierende Metropole und fotografierte vorzugsweise »Paris bei Nacht«, häufig mit schimmerndem, regennassem Pflaster. Bekannt ist er für seine Ausflüge ins Milieu der Ganoven und Prostituierten, Lumpensammler und Obdachlosen, doch viele andere seiner Motive sind grafisch durchkomponierte Aufnahmen. Auch André Kertész (1894–1985), ebenfalls ein stilbildender Fotograf des 20. Jahrhunderts und wie sein Kollege ungarischer Herkunft, beeinflusste mit seinen bei Regen, im Zwielicht oder bei Nacht aufgenommenen Straßenszenen die Richtung, in die sich die europäische Fotografie entwickelte.
Es reimt sich! Im französischen Chanson wimmelt es nur so von »Paris, la pluie« (Paris Music Tales), »Paris sous la pluie« (Guillaume Juhel), »Pluie sur Paris« (Anne Vanderlove), »Paris sous la Pluie« (Michel Fugain) und »Paris, la nuit, la pluie« (Didier Barbelivien), doch Sänger und Sängerinnen scheint Regen eher in melancholische Stimmung zu versetzen – richtig fröhlich wirkt keines dieser Musikstücke, ob akustisch oder mit Text. Paris-Touristen trotzen dem »schlechten Wetter« gern in farbigen, transparenten Regenumhängen, was der überwiegend grauen Szenerie und dem feucht-kalten Wetter das Düstere nimmt.
Wie klingt Regen? Fehlt noch die literarische Großwetterlage. Joris-Karl Huysmans beschreibt in seinem Roman »Les soeurs Vatard« (1879) einen heftigen Pariser Regenguss: »La pluie augmenta, hachant toute la rue de ses diagonales grises; des trombes de vent cinglaient les ardoises des toits, les faisant cabrioler en l’air et se briser sur les trottoirs avec un bruit sec; par moment, les rafales se ruaient sur une corniche, et là éclataient, volant en poussière fine. L’on entendait le crépitement de l’eau sur les vitres, le hoquet des ruisseaux, les plaintes sourdes des plombs obstrués, les roulades de gorges des tuyaux trop pleins et l’averse ruisselait sur les pavés, s’acharnait sur les tuiles, ravivait l’ocre pâli des murs, les tachant de plaques plus forcées, dégoulinant tantôt avec un fracas d’avalanche, tantôt avec un grésillement de friture au feu.« Vor allem die Geräuschkulisse des strömenden Wassers ruft der französische Schriftsteller in dieser Passage auf, das mal mit dem Donner einer Lawine herabstürzt, mal knistert wie beim Frittieren, ans Fenster prasselt, in Rohren und Regenrinnen gurgelt und über das Pflaster rinnt – aber der Regen frischt auch das verblichene Ocker der Mauern auf.
Mord im Regen: Im Krimi, bei Léo Malet beispielsweise, wird man ebenfalls schnell fündig, er setzt düsteres Wetter atmosphärisch ein und zum Spannungsaufbau. Für seine Paris-Krimis hat er die verschiedenen Arrondissements als jeweils eigentümliche Locations gewählt, und manchmal ist es zu heiß, oft aber eher zu nass: »Ein verregneter Frühling!«. Der Fall beginnt mit Regen, nass und nachtschwarz geht es weiter: »Draußen war die Nacht schon frühzeitig hereingebrochen. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem nassen Asphalt wider. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war schwarz und trächtig wie eine reife Frucht. Das bedeutete nichts Gutes. Nur die Ruhe vor dem Sturm. […]. Vor einem Gully, der die Wassermengen nicht bewältigen konnte, hatte sich ein richtiger See gebildet. Die Autos scherten sich einen Teufel darum. Wenn sie vorbeifuhren, überschwemmten dreckige Wassermassen den Bürgersteig.« Mal nieselt es nur, mal »schmollt die Sonne« und es sieht nach Regen aus, mal bedroht in einer feuchten Juninacht »ein vielverheißendes Gewitter, das nicht so recht in Gang kam«, die Hauptstadt, mal zerplatzen »einige dicke Regentropfen« auf dem Bürgersteig. Und als es mal in Strömen gießt, hofft Nestor Burma »pudelnass« zu werden: »Vielleicht konnte der Regen den schäbigen Gestank aus dem Zimmer des Toten verjagen.« (Übersetzung Hans-Joachim Hartstein). Wäre doch mal ein Thema für eine Dissertation – oder für einen Statistikfan: Wieviel Regen fällt eigentlich im »roman noir«?