ROLF LINDNER: IN EINER WELT VON FREMDEN

Sehnsuchtsort Stadt: In neun locker verbundenen Essays geht Rolf Lindner der Frage nach, worin die Anziehungskraft von Städten besteht. Die Antwort liefert ein Satz am Ende des Buchs: »Hauptstadt wird man per Dekret, Global City durch Beschlüsse der Konzernzentralen, Metropole aufgrund einer Mythologie«. Letztlich geht es also im Buch nicht um Städte oder Großstädte im Allgemeinen oder um eine »Theorie des Urbanen«, auch wenn einer der Essays so betitelt ist. Bilder und Filme, Literatur und Lieder überlagern die Wahrnehmung der Stadt – Berlin, Paris, New York, denkt man gleich, und dies sind auch die Orte, die Lindner durchstreift, um uns seine Befunde mitzuteilen, hinzu kommt noch Chicago.

Subkultur und Szene: Ob Künstlerkreise mit ihren Treffpunkten in den Cafés, intellektuelle Zirkel oder queere Communities, in der Großstadt gab es (Musik-, Kunst-, Mode-)Szenen, fanden sich Wahlverwandte. Sie konnten dort Aufstiegschancen, Anonymität und die Geselligkeit mit Gleichgesinnten bei gleichzeitiger Unverbindlichkeit der Begegnungen genießen, die die dörfliche Sichtbarkeit und soziale Kontrolle nicht zuließen. Die Metropole entwickelt als Raum vielfältiger Möglichkeiten eine ungeheure Faszination, deren Triebkraft der Autor in der Chance für Veränderung sieht, in dem Versprechen, sich jenseits von Tradition und Herkunft neu zu erfinden. Das zeigt auch momentan die Ausstellung »Paris magnétique« im Jüdischen Museum in Berlin.

Ein guter Erzähler: Rolf Lindner, 1945 geboren und aufgewachsen im Ruhrgebiet, emeritierter Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin, mit einem Fokus auf kulturwissenschaftliche Stadtforschung, hat zwar ein Sachbuch, aber auch ein sehr persönliches Buch geschrieben. Eine Fülle von aufschlussreichen Beobachtungen und Querverweisen zu Kunst, Literatur und den Klassikern der Kulturkritik wie Walter Benjamin verraten ebenso viel über den Autor wie über die Geschichte der Stadtforschung, die nebenbei auch noch Thema ist  – und das meine ich als Kompliment.

Stadtforschung: Die 60 Seiten für Anmerkungen und die Literaturliste sind eine inspirierende Fundgrube zum Weiterlesen. Ob es wohl dieser Platz fressende »Apparat« war, der dafür sorgte, dass das Buch als Bleiwüste erscheint? Seiten um Seiten ohne Absatz! Glücklicherweise überwiegt die Leselust, hat man erstmal angefangen. Bemerkenswertes habe ich in vielen Passagen entdeckt, etwa bei den Fragen, welche Rolle Elektrifizierung, Stadtbeleuchtung und Leuchtreklame spielen, wie sich urbaner Regen vom Niederschlag auf dem Land unterscheidet, was es mit urbanen Dörfern auf sich hat, wie man »Schönheit« einer modernen Metropole definiert oder bei Überlegungen zur Großstadt als Motiv der Malerei. Besonders lesenswert sind die Abschnitte dazu, was eine Stadt lebendig macht – nicht die funktionalistische Sicht technokratischer Stadtplaner, sondern ein von den Bewohnern in Besitz genommener Ort: »Eine Straße ist nicht nur ein Durchgangsraum, sondern auch ein Aufenthaltsraum, eine Begegnungstätte, ein Kommunikationsraum (und sei es nur über ein Hupkonzert), ein Erinnerungsraum und ein Laufsteg, la rue vivante im Sinne von Sansot.«

Fazit: Unbedingte Leseempfehlung! Ich habe diese multiperspektivische Studie ganz hingerissen und mit stetig wachsendem Interesse gelesen, das Buch macht einfach Spaß. (Und mir im Anschluss an die Lektüre »Poétique de la Ville« von Pierre Sansot gekauft, »Gehen in der Stadt. Ein Lesebuch zur Poetik und Rhetorik des städtischen Gehens, hg. von Justin Winkler, sowie mich als Gasthörerin zu einer Vorlesung über Stadtethnologie an der Universität zu Köln angemeldet, und werde das ein oder andere Buch aus meiner Paris-Bibliothek erneut lesen).

 

Rolf Lindner, In einer Welt von Fremden. Eine Anthropologie der Stadt, Matthes & Seitz, Berlin 2022

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