BLAU MACHEN AN DER CÔTE D’AZUR

Azurblaue Küste: In Hyères soll Stéphen Liégeard (1830–1925), ein Jurist, Politiker und Schriftsteller aus dem Burgund, beim Anblick des tiefblauen Meeres zum ersten Mal »Ah, la Côte d’Azur …« (»Ah, die azurblaue Küste …«) ausgerufen haben. Das lässt sich nicht nachprüfen, Tatsache ist jedoch, dass Stéphen Liégeard 1888 einen mit mehr als 400 eng bedruckten Seiten recht umfangreichen Reiseführer mit dem Titel »Côte d’Azur« veröffentlichte, nachdem er schon seit fünfzehn Jahren die Wintermonate in seinem Haus in Cannes verbracht hatte. Den Namen kreierte er vermutlich analog zur Côte d’Or seiner Heimat, und das Buch wurde sein erfolgreichstes. »J’ai contemplé la mer et le soleil, j’ai interrogé l’homme et la pierre, j’ai écouté le soupir de la brise et le murmure du flot. De tout cela rapporté-je un rayon, un écho, seulement un parfum? Décidez-en.« Zu dieser Zeit Ende des 19. Jahrhunderts begann die Geschichte des Tourismus an der Côte d’Azur, wurden Hyères, Cannes und Nizza von reichen Engländern und Russen als Winterreiseziel entdeckt. Unter den Erholungsgästen waren die englische Queen Victoria und die französische Kaiserin Eugénie ebenso wie der belgische König Leopold und die russische Zarenfamilie.

 

Le Grand Bleu: Wo die berühmte Uferpromenade endet und es auf der Corniche du Quai Rauba Capeu um die Landspitze herum zum Hafen im Osten der Stadt geht, steht »I love Nizza« in riesengroßen Lettern – ein beliebtes Motiv für Selfies. Der fantastische Blick auf die ganze Länge der Baie des Anges und die Stadt fasziniert, weil hier glitzerndes Meeresblau und Azurblau des Himmels aufeinandertreffen – beide Symbole für das Unendliche, die Weite und das Immaterielle. Übrigens heißt Rauba Capeu, übersetzt aus der lenga nissarda, Mützendieb – hier an der Landspitze kann der Wind einem schon mal die Kappe klauen und unendlich weit fortwehen…

 

Yves le Monochrome: Am blauen Meer der Côte d’Azur und unter dem blauen Sommerhimmel über der Baie des Anges, der Engelsbucht, wuchs Yves Klein (1928–1962) auf, und blau sind auch seine monochromen Werke im MAMC (Musée d’Art Moderne et Contemporain) in Nizza. Monatelang war der in Nizza geborene Yves Klein auf der Suche nach dem perfekten Blau. Zusammen mit einem Apotheker und einem Farbenhändler erfand er die Formel für ein neues Bindemittel, das die Farbkraft des reinen Ultramarin-Pigments nicht verringert, sondern zum Leuchten bringt. Mit seinen ersten elf monochromen Bildern provozierte er 1957 das Ausstellungspublikum – alle waren gleich groß, aber unterschiedlich teuer. Klein will das Zweidimensionale unendlich, das Eingerahmte grenzenlos, und dafür ist sein tiefes Blau, das er 1960 als International Klein Blue patentieren ließ, ideal geeignet.

Der inszenierte Skandal lag dem jungen Künstler, der alles mit Leidenschaft und unbezähmbarer Energie anging: Neben einfarbigen Gemälden entstanden auch sogenannte Antopomethrien, für die mit Yves-Klein-Blau bemalte nackte Frauen ihre Abdrücke auf Leinwand hinterließen. Die Aktion vor Zuschauern wurde auch gefilmt und von einem Orchester begleitet  – »Frauen als lebende Pinsel« machten Klein zum Vorläufer der Performance-Künstler (via Youtube noch zu sehen, zur feministischen Perspektive ein interessanter Blogbeitrag von Courtney Bagtazo unter https://www.bagtazocollection.com/blog/2018/9/28/yves-klein). Später erklärte er sogar, als junger Mann den Himmel signiert zu haben und die Vögel dafür zu hassen, dass sie an seinem blauen wolkenlosen Himmel hin- und herflögen, um Löcher in sein »größtes und schönstes Monochrom« zu bohren. Der mit nur 34 Jahren gestorbene Yves Klein war einer der ideenreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts und hat von Happening und Performance über Land- und Body-Art bis hin zu PopArt und Konzeptkunst zahlreiche spätere Strömungen vorweggenommen.

 

Ehre, wem Ehre gebührt: Die berühmten blauen Stühle, zum Markenzeichen der Promenade des Anglais in Nizza geworden, hatte 1950 Charles Tordo (1914–2003) erfunden, ein Tüftler vor dem Herrn, der schon unzählige Patente vom Scheibenwischer bis zum Mähdrescher angemeldet hatte. Ihn beauftragte der Inhaber der Konzession für die Stuhlvermietung (damals noch nicht kostenlos) mit der Fertigung von 800 Stühlen. Heute kümmert sich die Stadt um die blauen Stühle, die im Département Haute-Loire hergestellt werden und nach einem Redesign durch Jean-Michel Wilmotte nicht mehr ganz dem Original entsprechen. Um dem Diebstahl vorzubeugen, sind sie miteinander verbunden und im Untergrund verankert. Sabine Géraudie ist eigentlich Innenausstatterin und Malerin, hat sich aber von den blauen Stühlen zu einer ganzen Reihe von Arbeiten inspirieren lassen, unter anderem stammt auch »La Chaise de SAB« von ihr, ein Stuhl-Kunstwerk, das auf einem Sockel an der Promenade steht. Aber nicht nur sie. Auch der Künstler Armand Pierre Fernandez, besser als Arman bekannt, erwies 2004 dem Erfinder der blauen Stühle eine Hommage. Hinter den Glasfenstern des Musée d’Art Contemporain in Nizza stapeln sich seither in heilloser Unordnung mehrere hundert blaue Stühle zu einem gigantischen Stapel.

 

Blaue Stunde: Meine Lieblingszeit an der Baie des Anges ist die blaue Stunde zwischen Tag und Nacht, wenn der Strand sich zur Dämmerung leert, nur die letzten Schwimmer noch Bahnen ziehen, die Sonne hinter dem Horizont verschwindet und Himmel und Meer ineinander übergehen. Am späten Nachmittag gebe die Sonne es auf,  »dann wird es lila, dann hellblau, dann dunkelblau – und dann ist es aus«, schreibt Tucholsky über »Wandertage in Südfrankreich« (1925). Dieser »Heure bleue« hat einer der berühmtesten Parfümeure Frankreichs einen Duft gewidmet. Über 400 Parfüms hat Jacques Guerlain (1874–1963) komponiert, als Chefparfümeur in dritter Generation und als professionelle »Nase« des gleichnamigen Kosmetikunternehmens. Einige seiner Düfte sind bis heute beliebt, und »L’Heure bleue« von 1912, eines der berühmtesten Parfüms überhaupt, zählt auch dazu. Zeit seines Lebens mied Guerlain die Öffentlichkeit und hat kein einziges Interview gegeben, sodass man wenig über seine kreative »Kompositionsarbeit« und seine Inspirationen weiß. Zum Duft der blauen Stunde soll ihn seine Begeisterung für die Impressionisten veranlasst haben, anderswo heißt es, bei einem abendlichen Spaziergang an der Seine sei ihm die Idee für den Duft gekommen. »Langweilige Parfums werden von langweiligen Menschen gekauft«, hat der Parfümeur Frédéric Malle in einem Interview mal gesagt und meinte damit die Blockbuster-Düfte, gute Parfüms dagegen seien zeitlos und immer modern, so wie Catherine Deneuves Lieblingsduft »L’Heure bleue«. Wechseln sollte man so ein einmal gefundenes Parfüm nie, höchstens ein-, zweimal im Leben. Ich habe meins schon 42 Jahre.

 

Kind of blue: Mein Lesetipp dazu ist das Buch von Jürgen Goldstein, »Blau. Eine Wunderkammer seiner Bedeutungen« (Matthes & Seitz, Berlin 2017). Ein Kapitel darin ist Miles Davis und seinem legendären Album »Kind of Blue« gewidmet. 1963 und 1969 trat Miles Davis an insgesamt fünf Tagen auf dem Jazzfestival in Antibes auf, das unter freiem Himmel im Pinienhain in Saint-Juan-les-Pins stattfindet und heute »Jazz à Juan« heißt. Fans finden Details zu den Sessions unter http://www.plosin.com/MilesAhead/Sessions.aspx und Mitschnitte unter Youtube. 1960 fand das Festival zum ersten Mal statt, weil Sidney Bechet im warmen Klima der Côte d’Azur seine letzten Lebensjahre verbrachte. Das Livealbum von Miles Davis heißt »Miles Davis in Europe«, in späteren Pressungen »Miles in Antibes«.

Côte d’Azur Nizza

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