SYLVAIN TESSON: NOTRE-DAME DE PARIS
Kathedralenkletterer: Im Englischen bezeichnet der Begriff Stegophilist »a person who enjoys climbing up the outside of buildings«. Sylvain Tesson zählte eine Zeitlang zu diesen leidenschaftlichen Fassadenkletterern und hat wiederholt nachts »Notre-Dame de Paris« und rund 20 weitere Kathedralen zusammen mit einer Akrobatentruppe erklommen, in Chartres, Orléans, Reims, Amiens, Senlis, Meaux, Dijon, Straßburg… »Sobald uns die Lust überkam, gingen wir klettern. Die Stegophilie, die Liebe zu den Dächern, war unsere Leidenschaft. Die Turmspitzen waren die Gipfel unserer Wahl.« Vom Mont Saint-Michel sehen sie Schnee auf die dunkle Bucht fallen, in Rouen überzieht gerade ein Gewitter den Himmel.
15. April 2019: Die Idee, mehrere Texte zu Notre-Dame zu vereinen, entstand am Tag des Großbrands, bei dem die Pariser Kathedrale schwer beschädigt wurde. Gleich nach der Katastrophe hatte Staatspräsident Emmanuel Macron versprochen, das Wahrzeichen der französischen Hauptstadt in fünf Jahren wiederherzustellen zu lassen. Zu Beginn des Winters 2024 soll die restaurierte Kathedrale Notre-Dame nun wiedereröffnet werden, die Eröffnungsfeier ist für den 7. und 8. Dezember geplant. Zurückgekehrt sind schon die Glocken – erstmals seit 2019 wurden sie Anfang November testweise wieder geläutet.
Sylvain Tesson: Den französischen Reiseschriftsteller lernte ich im Kino kennen, durch die großartige Verfilmung seiner Durchquerung Frankreichs zu Fuß: »Auf dem Weg. 1300 km zu mir« von Denis Imbert. Nach einem schweren Sturz von einem Dach, während die Ärzte noch prognostizieren, dass er vermutlich nie wieder richtig gehen kann, bricht der Schriftsteller zu einer wahnwitzigen Wanderung auf, die ihn vom Nationalpark Mercantour im Südosten der Provence über das Zentralmassiv bis zur Halbinsel Cotentin im Norden der Normandie führt. Fernab der Straßen folgt er der »diagonale du vide« durch die große Leere Frankreichs, durch abgelegene Landstriche und verlassene Dörfer. Ihm geht es dabei um »Wege, auf denen man der Gegenwart entkommt« und das »Recht, abzuhauen«. Fantastische Landschaftsaufnahmen wie auch der Darsteller Jean Dujardin machten den Film zu einem Riesenerfolg. »Sur les chemin noirs«, die 2016 erschienene Vorlage für die Verfilmung, habe ich mir erst danach in Frankreich gekauft; einige der Reiseberichte Tessons aus der Zeit vor seinem Sturz gibt es auch in deutscher Übersetzung, beispielsweise »Weiß« über eine 1600 Kilometer lange Skitour über die Alpengipfel zwischen Menton und Triest.
Friedenauer Presse: Von Andreas Wolff 1963 in Berlin gegründet, wurde der Verlag von 1983 bis 2017 von Katharina Wagenbach-Wolff geführt. Seit die Verlegerin sich nach über 30 Jahren Tätigkeit zurückzog, wird die Friedenauer Presse als Imprint des Verlags Matthes & Seitz geführt. Neben einem Schwerpunkt auf russischer Literatur finden sich unter den sorgfältig gestalteten Titeln auch immer wieder Übersetzungen aus dem Französischen – zuletzt habe ich zwei Bände von Honoré de Balzac gekauft, die »Theorie des Gehens« und die »Abhandlung über moderne Stimulanzien«, sowie »Die Schwestern Vatard« von Joris-Karl Huysmans und »Leben in Zahlen« des Belgiers Charly Delwart. In einem Porträt für »Sinn und Form« (Juli/August 2014) schrieb die Autorin Nicole Henneberg über die Verlegerin und die Friedenauer Presse: »Es sind besondere Bücher, die hier entstehen, Gesamtkunstwerke vom Umschlag über den Druck bis zur Bindung. Schon auf den ersten Blick spürt der Leser, daß diese Bücher nicht nur schöner aussehen, sondern auch aufmerksamer gelesen werden wollen – dafür belohnen sie mit geistigen Abenteuern und echten Entdeckungen.«
Sylvain Tesson, Notre-Dame de Paris, aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis, Friedenauer Presse, Berlin 2023