KLASSIKER LESEN: JORIS-KARL HUYSMANS – DIE SCHWESTERN VATARD
Überlebenskämpfe der kleinen Leute: Um zwei Uhr früh setzt der Roman ein, bei der Nachtarbeit in der Buchbinderei herrscht ein Höllenlärm, zur Geräuschkulisse von Papierschneidemaschinen und Presse, Winkelhaken und Falzmesser kommt noch der raue Gesang der Belegschaft, und die Forderung nach der Auszahlung des Lohns mündet in einem wilden Tumult. Während es schon hell wird, dösen die Arbeiterinnen beim Warten in der Werkstatt völlig übermüdet im Halbschlaf vor sich hin, auf dem Holzboden oder an Papierstapel lehnend. Hier schuften auch die beiden Protagonistinnen des 1879 erschienenen Romans »Die Schwestern Vatard«, die fünfzehnjährige Désirée und die etwas ältere Céline. Vor Müdigkeit taumelnd legen sie den weiten Weg nach Hause zurück, vorbei an der »Not alter Vorstädte«, und schlafen dort sofort ein, »ohne auch nur die Kraft zum Aufschnüren der Kleider aufzubringen«. Ohne zu beschönigen, geradezu drastisch schildert Huysmans das Milieu der Unterschicht, das Ablenkung nur im Suff findet, die schwer verdienten Groschen in Spelunken vertrinkt und alle Energie nur darauf wendet, die eigene Frau zu verdreschen. Gewalttätigkeit der Männer ist an der Tagesordnung, die Frauen kommen mit Prellungen und Blutergüssen zur Arbeit: »Backpfeifen im Gesicht, Fußtritte im Kreuz, das war ihr Los; der Mann war mal mehr, mal weniger stark, der Tanz mal mehr, mal weniger lebhaft, das war alles.«
Naturalistische Erzählformen: Die beiden Schwestern aus einfachen Verhältnissen erhoffen sich eine bessere Zukunft, die sanfte Désirée wünscht sich einen Mann, der nicht trinkt, und ein behagliches Zuhause, die lebenslustige, nicht zu bändigende Céline hängt ihr Herz eine Zeitlang an einen erfolglosen Maler, dann wieder an einen leichtlebigen Trunkenbold. So schonungslos wie anschaulich verschafft das Buch einen Einblick in die armselige Existenz dieser beiden Frauen. Zu den seltenen Vergnügungen zählen Besuche im Varieté, der Absinth im Café und Spaziergänge durch die Viertel der Reichen. Der Jahrmarktbesuch und die anschließende Heimkehr in der Straßenbahn gehören zu den lebendigsten Passagen im Buch, mit herkulesartigen Ringern, Clowns, Schlangenbeschwörerin und dicken Frauen als Attraktionen, Schießbuden und Karussell, Lebkuchenhändlern, Korbflechtern und jeder Menge Süßigkeiten und Flitterkram. Unerschwinglich für die beiden Schwestern sind dagegen die Wochenendausflüge aufs Land, wie sie die etwas wohlhabendere Pariser Bevölkerung liebt. Beim Blick vom Fenster auf die benachbarten Bahngleise wecken der Frohsinn und die Zufriedenheit der Leute auf den Oberdecks der Züge ihren Neid, und »eifersüchtig auf das Glück der Leute« wenden Denise und Céline ihre Aufmerksamkeit lieber den Lokomotiven und den Bahnen selbst zu. Der 1839 eröffnete »chemin der fer« nach Versailles war erst die zweite Bahnstrecke in der Ile de France und gerade mal vier Jahrzehnte alt – mit dieser Szene und einer weiteren im siebten Kapitel hält die Eisenbahn Einzug in die Literatur, sehr bildhaft und gleich mit Tonspur, denn Huysmans beschreibt sie sehr »geräuschvoll«.
Zensur und staatliche Kontrolle: »Gegen den Strich«, der bekannteste Roman von Joris-Karl Huysmans (1848–1907), gilt als als zentrales Werk des Fin de siècle und der Décadence und steht auf vielen Leselisten als kanonischer Klassiker. Dass dem in Paris geborenen Schriftsteller das soziale Milieu der kleinen Handwerker und Arbeiter aus nächster Nähe vertraut war, zeigt unter anderem der biografische Fakt, dass sein Stiefvater eine Buchbinderei besaß, die Huysman später erbte und eine Zeitlang betrieb, bevor er sie verkaufte. In seinem informativen Nachwort verweist Gernot Krämer, der den Band auch übersetzt hat, zudem auf den Aufsatz »Le No 11 de la Rue de Sèvres«, in dem Huysmans das ehemalige Prämonstratenserkloster beschreibt, in dem er aufwuchs und in dessen Erdgeschoss sich die Buchbinderei befand (»l’établissement de brochure dont je parlai dans les Soeurs Vatard occupe le rez-de-chaussée«). Zur Zeit des Erscheinens war der literarische Naturalismus mit seinen »realistischen« Beschreibungen in den zeitgenössischen Rezensionen harscher Kritik unterworfen – Werke beispielsweise mit Prostituierten-Thematik entsprachen nicht der bürgerlichen Moral, konnten sich aber gerade deswegen zu Skandalerfolgen entwickeln. Huysmans selbst hatte die nicht ganz unbegründete Sorge, dass ihn dieser Roman ins Gefängnis bringen könnte. Zwar war die Vorzensur, also die Begutachtung der Manuskripte vor der Publikation, während der Französischen Revolution aufgehoben worden, doch die nachträgliche Verfolgung von Autoren oder Eingriffe in das Manuskript durch die Verleger, um der Zensur zuvorzukommen, waren dadurch nicht abgeschafft. Was galt, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrfach liberalisiert oder wieder verschärft. Auch Huysmans erster Roman »Marthe«, den er sicherheitshalber in Brüssel hatte drucken lassen, war von Zollbeamten an der Grenze beschlagnahmt worden, als der Autor rund 400 Exemplare importieren wollte, mit der Begründung, das Werk gefährde die öffentliche Moral. Als dann 1879 »Les Soeurs Vatard« erschien, war das Buch innerhalb weniger Tage vergriffen und wurde noch im selben Jahr mehrmals nachgedruckt.
Joris-Karl Huysmans: Die Schwestern Vatard, übersetzt von Gernot Krämer, Friedenauer Presse, Berlin 2021