STUTTGART: DIE HORTENKACHELN

Vorhangfassaden: Wer kennt sie nicht, die typischen Wabenfassaden von Kaufhausbauten in deutschen Innenstädten? Sie waren einst das Markenzeichen von Horten – die vorgesetzte abstrakte Fassade bestand aus Elementen, die stilisiert den Buchstaben »H« nachbilden. Anfang der 1960er-Jahre setzte der Baumeister Egon Eiermann (1904–1970), einer der bedeutendsten Architekten und Designer der Nachkriegszeit, dieses »Corporate Design« für ein Kaufhaus in Stuttgart ein, doch bald hatten andere Architekten die Bauplanung für den Warenhauskonzern übernommen und sich dabei an die vorherigen Entwürfe angelehnt.

Design unter Denkmalschutz oder Schrott? Anfänglich wurden die etwa 50 x 50 Zentimeter großen Kacheln aus Beton oder Keramik gefertigt, später aus Aluminium. Über Jahrzehnte haben sie deutsche Innenstädte geprägt, bald wird es jedoch keine mehr geben. Zuletzt konnten Fans in Düsseldorf beim Abriss einzelne Elemente erwerben – die Nachfrage überraschte auch die Abrissunternehmer. Der Streit um die Denkmalwürdigkeit solcher »Vorhangfassaden« (dank derer es mehr Stellflächen anstelle von Fenstern gab) wurde sehr unterschiedlich entschieden – in Duisburg sind sie geschützt, in Hagen, Gießen, Düsseldorf und Krefeld beispielsweise durfte abgebrochen werden. Nun verschwand 2021 auch der markant-wuchtige Bau in Stuttgart, dessen Fassade ebenfalls mit den typischen Hortenkacheln gestaltet war. In der Landeshauptstadt Baden-Württembergs gingen Sammler jedoch leer aus – die bei Designfans begehrten Architekturelemente wurden entsorgt. Unter Denkmalschutz standen sie nicht, weil es sich nicht mehr um die Eiermann-Originale handelte.

Ein schmerzhafter Verlust: Hinter der Geschichte des Kaufhaus-Abrisses steht allerdings ein zweiter, viel unverzeihlicherer Abriss, der rückblickend in Stuttgart allgemein als große Bausünde bedauert wird: Das im Bauhausstil gestaltete Kaufhaus Schocken stand zuvor an dieser Stelle. Die Brüder Salman und Simon Schocken hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg Warenhäuser eröffneten, weitere folgten in den 1920er-Jahren, darunter das Kaufhaus in Stuttgart. Der jüdische Architekt Erich Mendelsohn (1887–1953), der als Vorreiter der Streamline-Architektur gilt und im Exil überlebte, entwarf ein elegantes Gebäude mit einer gebogenen Glasfront aus horizontalen Fensterbändern – ein großer Wurf. Zusammen mit der ebenfalls 1928 entstandenen Weißenhofsiedlung am Killesberg und dem Tagblattturm gleich gegenüber bildete das Kaufhaus Schocken ein beeindruckendes Beispiel neuer Sachlichkeit. Es galt bald als Deutschlands schönstes Warenhaus – und wurde 1960 von der Stadt zum Abriss freigegeben.

Lesetipp: Claudia Kleemann und Martin Ulmer porträtieren in einem 2020 erschienen Buch den jüdischen Kaufmann Simon Schocken (1874–1929), der mit seinem Bruder und Geschäftspartner Salman mit den Warenhäusern nicht nur satte Gewinne erwirtschaftete, sondern auch für innovative Baukunst sorgte. Nachdem der architekturbegeisterte Visionär Simon Schocken 1929 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, übernahm Bruder Salman die Leitung des Konzerns, eine der erfolgreichsten Kaufhausketten Deutschlands. Unter dem Druck der Nationalsozialisten erfolgte 1938 die »Arisierung« durch den Verkauf weit unter Wert an eine deutsche Bankengruppe und damit faktisch die Enteignung. Einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt Salman Schocken die Aktienmehrheit an dem in Merkur AG umbenannten Unternehmen zurück (zumindest in der US-amerikanischen Zone, in Sachsen wurde zugunsten des Landes enteignet) und verkaufte seine Anteile 1953 an Helmut Horten. Der drohte mit Schadensersatzforderungen, falls das Gebäude nicht abgerissen werden dürfe. Erheblichen Anteil hatte aber auch die Stadt mit ihrer Forderung nach einer autofreundlichen Verbreiterung der Eberhardstraße – und der von Horten beauftragte Architekt Egon Eiermann, der den Mendelsohn-Bau als minderwertig in Konstruktion und Grundriss bezeichnete.

Claudia Kleemann, Martin Ulmer: Simon Schocken – Jüdischer Kaufhauspionier – Philanthrop – Gestalter, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2020

Stuttgart Hortenkacheln

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