STREET-ART IN PARIS: MISS.TIC
Bomb it! Unter diesem Titel erschien in der Edition Nautilus ein Bildband über die Street-Art-Künstlerin, deren Stencils schon seit Mitte der 1980er-Jahre die Hauswände und Mauerflächen in Paris schmücken, anlässlich der gleichnamigen Ausstellung 2011 in Berlin. Ganz wenige Frauen sind als Urban-Art-Künstlerinnen einem breiten Publikum bekannt geworden und haben den Sprung in die Galerien und Museen geschafft – Miss.Tic stellt mit ihren an das Victoria and Albert Museum in London verkauften Arbeiten eine Ausnahme dar. Nicht nur die Filmemacherin Agnès Varda hat 2006 einen Kurzfilm über sie gedreht, auf Youtube sind diverse weitere Porträts und Interviews abrufbar. Zahlreiche Ausstellungen zeigten ihre Arbeiten, auch außerhalb Frankreichs von Berlin und London über Venedig bis Miami. Im Jahr 2011 legte die französische Post zum Frauentag am 8. März sogar eine Briefmarkenserie mit zwölf Motiven auf. Bis auf die männliche Rückenansicht und die letzten fünf Fotos (aus Trouville in der Normandie) stammen alle Fotos aus Paris. Nachtrag im Juni 2022: Anlässlich des Todes von Miss.Tic hat der Autor des Paris-Blog einen älteren Beitrag zu der Street-Art-Künstlerin aktualisiert und umfangreich erweitert.
Aerosol tagging: Die 1956 geborene Pariserin, Tochter eines tunesischen Einwanderers und einer normannischen Bauerntochter, wuchs am Montmartre und in Orly auf. 1985, so betont Miss.Tic in Interviews, war Paris noch »vierge« (jungfräulich), es gab bis dato kaum Graffiti in der französischen Metropole – das macht sie zur Street-Art-Künstlerin der ersten Stunde. Ihr Künstlerpseudonym ist ein Wortspiel mit »mystique« (geheimnisvoll) und verweist zugleich auf eine Zeichentrickfigur der Disney-Welt (frz. Miss Tick, engl. Magica De Spell, dt. Gundel Gaukeley). Carl Barks hatte diese Hexe erfunden und nicht – wie sonst so typisch – hässlich aussehen lassen, sondern mysteriös und ein klein wenig verführerisch. Gesprayte Schablonenbilder, wie sie Miss.Tic unter Einsatz von Schere, Karton und Farbspraydosen (engl. »bomb«, frz.»bombe« oder »aérosol«) auf Hauswände aufbringt, heißen in Frankreich »pochoirs« (engl. »stencil« für Schablone). Ihre Kollegin Intra LaRue dagegen arbeitet mit Gipsabgüssen.
La star du pochoir: Miss.Tic gilt als »poète d’art urbain«, weil sie sich nicht auf Bildmotive beschränkt, sondern diese mit vieldeutigen, teils gesellschaftskritischen Aphorismen verfremdet. Die gesprayten Frauen von Miss.Tic, ihr Markenzeichen mit hohem Wiedererkennungswert, sind jung, attraktiv, sexy und geheimnisvoll, jedoch keine Pin-ups. Als Vorlage nutzt die Pariser Straßenkünstlerin Abbildungen aus gängigen Frauenmagazinen und Illustrierten und verfremdet sie. Bildlich spielt Miss.Tic zwar mit dem Stereotyp der verführerischen Frau, stellt die klischeehafte sexualisierte Darstellung mit subversiven, frechen, paradoxen oder provokativen Wortspielen aber in einen anderen Kontext – als sich selbst ermächtigende, unabhängige und selbstbestimmte Frau. »Madame rêve Monsieur ronfle« (Sie träumt er schnarcht) ist ein Beispiel, »Je ne fuis pas je m’éloigne« (Ich flüchte nicht ich gehe weg) und »Je ne brise pas que les coeurs« (Ich [zer]breche nichts außer Herzen) oder auch das Motto der Künstlerin: »Je prête à rire mais je donne à penser« (Ich gebe Anlass zum Lachen aber rege zum Nachdenken an). Vieles ist schwer zu übersetzen (Je suis la voyelle du mot voyou, Plus Coco que Chanel, Quel leurre est-il), weil das Sprachspiel verloren geht, beispielsweise bei »armée jusqu’au dentelles« (bis zu den Spitzen bewaffnet) funktioniert der Bezug dents/dentelles mit Spitzen/Zähnen im Deutsch nicht mehr. Anderes ist nah an der Achtsamkeitsbinse, passt in Pandemiezeiten aber vortrefflich: »Souriez vous-êtes vivant« (Bitte lächeln, Sie leben).