PASCALE HUGUES: MÄDCHENSCHULE

Klassenfoto: Ein Foto ihrer Grundschulklasse aus dem Jahr 1968 und ihr altes Poesiealbum aus dieser Zeit bilden den Anlass –  die Journalistin Pascale Hugues fragt sich, was aus all den damals neunjährigen Mädchen wohl geworden ist. Fünfzig Jahre später macht sie sich auf die Suche nach ihren Klassenkameradinnen. Ein Dutzend spürt die Autorin auf, trifft sich mit ihnen und zeichnet anhand langer Gespräche die Lebensläufe ihrer Mitschülerinnen nach. Aus diesen Einzelbiografien und dem »O-Ton« eingestreuter Zitate entsteht das Gruppenporträt einer Generation von Frauen, die noch ganz traditionell zu »Mädchen« erzogen wurden, aber als Nachgeborene der 68er-Rebellinnen von deren Errungenschaften profitieren. Die Bausteine ihrer Biografien ähneln sich, Geburt in sehr bescheidenem Milieu, kurze Ausbildung, in seltenen Fällen das Abitur, »der erste Job oft für immer, Hochzeit in Weiß, auch für immer«, Kinder, »auf jeden Fall weniger als die Mutter«, längst schon Enkelkinder. Aber inzwischen gibt es auch die Pille, das Recht auf Abtreibung, einvernehmlichen Scheidungen…

Krut: Gleichzeitig hat das Buch eine zweite Ebene, die es lesenswert macht, denn zur Schule gehen die Mädchen im Krutenau-Viertel von Straßburg. Schon das Poesiealbum, ein Geschenk der Großmutter, ist eng mit der Geschichte des Elsass verbunden – »im ›Innerfrankreich‹, wie wir im Elsass das Frankreich jenseits der Vogesen, das ›echte Frankreich‹ nennen«, existiert es nicht, es ist ein Erbe der langen Periode, als das Elsass deutsch war. Die Freundschaftseinträge sind auf Französisch, doch für die Mädchen ist diese Sprache nicht selbstverständlich – für die kleinen Einwanderinnen aus Italien, Spanien oder dem Maghreb ist es eine Fremdsprache, und auch bei den Elsässerinnen wird zu Hause nicht wie in der Schule gesprochen, wo der »Dialekt« verboten ist. Die Eltern hatten während des Kriegs die deutsche Schule besucht, die Großeltern waren als Deutsche geboren worden, und manche sprachen kein Französisch mehr, als das Elsass 1918 wieder französisch wurde. Die Lebensläufe der Mädchen zeigen auch, wie nah der Zweite Weltkrieg noch war, vielleicht sind gerade deswegen Gespräche darüber vielfach tabu: »Wir sind vierzehn Jahre nach ihm geboren, und 1968 war er seit dreiundzwanzig Jahren zu Ende. Vierzehn Jahre, dreiundzwanzig Jahre, das ist fast gar nichts. Ein winziger Flohsprung auf der langen Skala der Zeit.« Die Familien haben beides erlebt, systematische Germanisierung und komplette Refranzösisierung. Neben die Vergangenheit tritt im Buch auch die Gegenwart Straßburgs, etwa die Gentrifizierung des Krutenau-Viertels oder das Stadtzentrum, in dem Traditionsläden schließen und nur noch »hippe Patisserien und Luxusfleischereien« übrig bleiben.

Pascale Hugues: Die französische Journalistin und Schriftstellerin berichtet seit langer Zeit als Deutschlandkorrespondentin für französische Medien aus Bonn und Berlin, vor allem für das Wochenmagazin »Le Point«, und hat(te?) eine vierzehntägige Kolumne im »Tagesspiegel«. Zu ihren mehrfach preisgekrönten Büchern zählen »Marthe und Mathilde« (2008) über ihre beiden Großmütter und »Ruhige Straße in guter Wohnlage« (2013) über die Geschichte(n) ihrer Nachbarn. Auch dort werfen dank der Erzählkunst der Autorin individuelle Biografien und Ereignisse Schlaglichter auf Allgemeines.

 

Pascale Hugues, Mädchenschule. Porträt einer Frauengeneration (L’Ecole des filles), aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli, Rowohlt 2021

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