MEINE BIBLIOTHEK SCHRUMPFT
Einsortieren: Im Garten macht das Einpflanzen auch mehr Spaß als das Umtopfen oder gar Unkrautstechen. So ähnlich ist es mit der eigenen Bibliothek – am Anfang eines Leselebens sortiert man stolz wie Bolle immerzu Neuzugänge ein, in der Mitte ordnet man die Bücherregale vielleicht mehrmals nach neuer Systematik, um noch durchzublicken, am Ende muss man vor allem ausmustern. Oder ausmisten? So hatte ich die Studienjahre über meine Literatur nach Erscheinungsjahr geordnet, Diderot kam neben Goethe zu stehen, Heine neben Balzac, Thackeray neben Storm, ob nun in Originalsprache oder Übersetzung. Später entschied ich mich dann doch für eine alphabetische Ordnung der Belletristik, und bei den Sachbüchern für Themengruppen nach meinen Interessen, also beispielsweise Exil, Reiseliteratur, Frankreich, Paris, Feminismus, Kulturgeschichte, Typografie. Und meine Kochbücher habe ich gar nach Farben sortiert, eine ironische Antwort darauf, dass eine solche Regenbogen-Ordnung in der Regel Spott auf sich zieht (außer bei der Edition Suhrkamp) und anders als das alphabetische Ausstellen bildungsbürgerlicher Belesenheit als absolut unintellektuell gilt (Es als »faschistoid« zu bezeichnen wie in »Der Freitag«, Zehn Fakten über das Bücherregal, 17. Oktober 2024, ist harter Tobak. Als ob das Alphabet ein logischeres Ordnungskriterium wäre).
Leselust: Schon als Kind war ich ein Bücherwurm, nicht mal der Deutschunterricht minderte den Spaß am Lesen, und nach dem Abitur stand fest, dass nur ein Studium der Literaturwissenschaft in Frage kam. Während der Semester in Marburg, Tours, Bielefeld und Köln fiel mir selbst das pflichtgemäße Lesen leicht – damals mussten die Studierenden des Fachs noch das kennen, was sich Kanon der klassischen Literatur nannte, und der sich genialisch gebende Professer erwartete für die Anmeldung zum Thomas-Mann-Hauptseminar den Nachweis umfassender vorheriger Mann-Lektüre. Wir lasen altfranzösische und mittelhochdeutsche Texte, analysierten erste Sätze der Weltliteratur, beschäftigten uns mit Palimpsest und Paratext, Parodie und Satire. »Das Studium war der Eintritt in eine Bibliothek, und, wie in den Regalen dort, so reihte sich bald auch im Kopf Buch an Buch«, erinnert sich die Germanistin Hannelore Schlaffer in der »Welt« (27. November 2024). Und jede Lektüre verwies wiederum auf weitere Texte, auf die man sich freuen konnte…
Aussortieren: Bei jedem Umzug, und ich bin oft umgezogen, habe ich radikal reduziert, kistenweise Bücher in Antiquariate gebracht – die 143 Bände der Weimarer Goethe-Ausgabe von DTV etwa schufen richtig Platz. Teils sind ganze Interessengebiete draufgegangen, fast meine gesamte Reiseliteratur ist weg, seit ich die Idee einer »Bibliografie für Traveller« begraben habe, die cinephilen Bücher von Godard bis Truffaut sind schweren Herzens entsorgt, die einst große »Abteilung« der Verlagsgeschichten und Verlegerbiografien ist aufgelöst. Später habe ich all das, was ich nicht erneut lesen würde oder nicht mehr für die Recherche oder das eigene Schreiben nutze, für Centbeträge an Second-Hand-Unternehmen verkauft, an Interessierte verschenkt und noch viel mehr in öffentliche Bücherschränke gestellt. Seit einigen Jahren kommt für jedes Buch, das ich neu oder gebraucht kaufe, eines weg, besser zwei oder drei. Inzwischen müssen nur meine Lieblingsklassiker nicht um ihr Bleiberecht fürchten, auf Rabelais und Jean Paul, Wieland und Döblin, Diderot und Fielding, Arno Schmidt und Oskar Pastior, Feuchtwanger und E.T.A. Hoffmann zu verzichten, würde mir extrem schwerfallen. Hausrecht behalten auch Sachbücher ohne inhaltliches Verfallsdatum und die Theorie, Roland Barthes, Michel Foucault, Walter Benjamin, Norbert Elias beispielsweise oder auch Luhmann und Koselleck (bei denen ich in Bielefeld studieren konnte).
Männer lesen: Beim Aussortieren hockt man vor dem Bücherregal auf dem Boden, blättert durch vergilbte oder geradezu gebräunte Bändchen, wundert sich über Bleistiftmarkierungen und eng und dicht bedruckte Taschenbuchseiten fast ohne Rand und Zeilenabstand. Was jetzt noch weg soll, ist zugleich ein Stück meiner Lese-Biografie. Autoren, die ich in der Schul- und Studienzeit einst entdeckt habe und die mich – durchaus generationstypisch – faszinierten, waren überwiegend und wie selbstverständlich Männer, Ingomar von Kieseritzky, Stanislaw Lem, Hermann Hesse, Siegfried Lenz, Sten Nadolny, Milan Kundera, Rafael Alberti, Gerhard Roth, Jürgen Becker, Jean-Philippe Toussaint, Michel Tournier, Jean Echenoz und weitere, sie alle verlassen gerade meine Bücherregale. Damals – in den 1980er-Jahren – wurden Vorlesungen und Seminare, die wir besuchten, alle von Männern gegeben, Professorinnen gab es im »Frauenfach« Germanistik so gut wie nicht, und so zog mein Doktorvater noch recht deutlich die Brauen hoch, als ich als Jungstudentin Gabriele Wohmann als Lieblingsautorin nannte, offensichtlich eher »guilty pleasure« als ernstzunehmende Lektüre (Unlängst hat Nicole Seifert in ihrem Buch »Einige Herren sagten etwas dazu« die Geschichte der Gruppe 47 aus der Perspektive der Autorinnen dargestellt und eröffnete damit einen ganz neuen Blick auf die Nachkriegsliteratur.). Um Gegenwartsliteratur ging es im Studium nur selten, weit mehr sprechen mich bis heute die Romane des 17. bis frühen 20. Jahrhunderts an.
Frauen lesen: Gleichzeitig begann schon damals, während des Literaturwissenschaft-Studiums, eine Phase, in der ich Bücher von Autorinnen verschlang, etwa Marieluise Fleißer, Irmgard Keun, Irmtraud Morgner, Christa Wolf, Brigitte Reimann, Christiane Rochefort, später kamen George Eliot, Jane Austen, Marguerite Duras, Colette, Virginia Woolf, Erika Mann, Friedrike Mayröcker und Wiederentdeckungen wie Vicki Baum oder Marlen Haushofer dazu. Heute gibt es glücklicherweise so viel interessante Belletristik von Frauen, dass ich mit Autorinnen wie Maya Angelou, Sybille Bedford, Anita Brookner, Annie Ernaux, Annette Kolb, Maylis de Kerangal, Marie-Hélène Lafon, Barbara Pym, Barbara Trapido oder Gabriele Tergit noch lange lesen kann, ohne ein Buch von einem Mann in die Hand nehmen zu müssen (bei Sachbüchern ist das noch bezeichnend anders, von einer Verlagslektorin hörte ich, dass sie Sachbücher von Autorinnen gar nicht publizieren, das läsen Männer ja nicht. Dennoch geht im Feuilleton unter Redakteuren schon die Sorge um, die Zukunft des Schreibens, der Bestenlisten und der Verlagsprogramme könnte weitgehend weiblich sein: »Literarischer Post-Feminismus: Ist das ein neues Literatur-Zeitalter?«, SZ 10. Oktober 2024).
Bücherregale: In den Wohngemeinschaftsbuden während des Studiums waren meine Regale noch selbstgebaut, aus einfachen, preiswerten Fichtenbrettern, in deren geringe Tiefe und niedrige Abstände reihenweise günstige Taschenbücher passten. Doch schon bald ließ ich mir vom Tischler Würfel aus Buchenholz bauen, die sich bei vielen Umzügen in neuer Anordnung bewährten, allerdings ist die so schöne harmonisch-gleichmäßige Aufteilung in Quadrate ein echter Platzfresser, ein Taschenbuchabstand lässt sich ja nicht einstellen. Nach und nach füllten die Würfel sich daher mit doppelten Reihen, so verschwanden die Bücher allerdings nicht nur aus der Sicht, sondern auch aus der Erinnerung. Also kamen erst noch geerbte Billys, dann ein ausgesprochen teures, fast 4 Meter hohes Interlübke-Regal dazu – beim nächsten Umzug in ein Haus mit normaler Raumhöhe musste ich für viel Geld viel teuer bezahlte Regalmeter wieder absägen lassen. Dass ich jetzt rigoroser ausrangiere als früher, trotz der emotionalen Bindung gerade an meine Bücher, hat mit der Aufgabe zu tun, den Nachlass der Elterngeneration zu bewältigen und mit gehorteten Dingen übervolle Haushalte aufzulösen. Die in den 1930er-Jahren geborenen Kriegskinder hatten Nachholbedarf und glaubten, mit Teppichen, Porzellan und Gemälden Werte anzuschaffen. Zudem wurde nichts weggeworfen, in den Bücherregalen meiner Eltern stehen selbst meine Schulbücher aus den 1970er- und meine Kinderbücher aus den 1960er-Jahren noch.
Bibliotheken und Buchhandlungen: Während meiner Kindheit und Jugend schleppte ich Schwerlast-Romanstapel aus den Stadtbüchereien von Hannover, Rheydt und Erkelenz nach Hause, sodass ich oft Leseverbot erhielt wie andere Gleichaltrige mit strengen Eltern vielleicht ein Verbot von Süßigkeiten. Spätestens ab dem Studium (immer nebenbei jobbend) ließ ich das, was mein Budget hergab, in Buchhandlungen und Antiquariaten. In den Jahren danach kamen dank jahrzehntelanger Arbeit als Autorin, Redakteurin und Übersetzerin nicht nur Belegexemplare hinzu, als Mitarbeiterin erhielt man ein Buchbudget für die verlagseigenen Titel; im besonders großzügigen Verlag Artemis & Winkler bekam man sogar alle Neuerscheinungen, nicht nur die von mir betreuten Klassiker-Ausgaben im Dünndruck und weiteren Reihen. Zwar habe ich vieles gar nicht erst gekauft, Bildbände beispielsweise – für Bücher nur zum Blättern statt zum Lesen hatte ich noch nie Platz –, doch in einem langen Leseleben kommen trotz vieler Umzüge eben Bücherberge zusammen. Ein besonders bibliophiler Typ bin ich nicht, weder sammle ich Erstausgaben noch Widmungen bei Lesungen von Autorinnen und Autoren, Bücher habe ich einfach nur gern um mich: »Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt«, um einen Satz von Jorge Luis Borges aufzugreifen. Während der manchmal zähen Arbeit an meiner literaturwissenschaftlichen Dissertation waren die Arbeitsaufenthalte in der (alten) Pariser Nationalbibliothek, der »Stabi« in Berlin und der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel die schönsten Wochen.