MAYLIS DE KERANGAL: KANUS
Canoës: Um die titelgebenden Kanus geht es gar nicht, obwohl sie in diesem Erzählband wiederholt an eher versteckten Stellen auftauchen, etwas als Kettenanhänger einer Zahnärztin oder kurze Erinnerung an einen Paddelurlaub. Und auf den ersten Blick scheinen die acht Kurzgeschichten nicht durch ein Thema verbunden. Maylis de Kerangal erzählt in langen Sätzen von scheinbar unspektakulären Situationen, verdichtet zu Momentaufnahmen in sieben Kurzgeschichten, die wie Satelliten um ein längeres Prosastück kreisen: »Mustang« bildet das Zentrum, so die Autorin. Darin hatte die Ich-Erzählerin eine lange Fernbeziehung, zusammen sind sie ausgewandert, das Paar lebt leben nun mit Kind in Colorado. Doch Sams Stimme gibt ihr ein Gefühl der Fremdheit, er spricht merklich lauter und langsamer als in Frankreich, passt sich den Leuten vor Ort an, »mischt sich darunter, verschmilzt damit, als füge er sich ins örtliche Orchester ein; seine Stimme eignet sich nach und nach ihren Tonfall an, übernimmt ihren Rhythmus und ihre Lautstärke«. So leicht wie ihm und dem Kind fällt es der Ich-Erzählerin nicht, sich an den »American way of life« anzupassen.
Radiostimme mit männlichem Timbre: Und doch gibt es in den Erzählungen einen roten Faden. Eine Tochter bittet ihren Vater, endlich die Ansage ihrer vor fünf Jahren verstorbenen Mutter vom Anrufbeantworter zu löschen, die Abiturientin beteiligt sich am allgemeinen affenartigen Schreien zur Feier des bestandenen Examens. Eine Frau wärmt ihre Stimme auf und spricht im Tonstudio ein Gedicht für zwei Schwestern ein, die daran arbeiten, »der Literatur ihre Mündlichkeit, ihre Körperlichkeit« zurückzugeben. Beim Lesen erschien mir die Erzählung »Gebirgsbach und Ätherrauschen« vielleicht der Auslöser zu sein, darüber zu schreiben, welche Rolle die Stimme für uns spielt. Darin trifft die Ich-Erzählerin nach einer erheblichen Zeitspanne eine gute Freundin wieder und spürt eine ihr zunächst unerklärliche Dissonanz. Erst als die Freundin einen Anruf auf dem Handy annimmt, fällt ihr auf, »dass Zoé nicht mehr so sprach wie früher«. Denn in der Hoffnung auf eine Radiokarriere hat sich Zoé ihre helle, spitze Stimme abtrainiert, um sie »tiefer, sonorer, ruhiger« und weniger weiblich werden zu lassen. Denn »je höher du sprichst, desto mehr giltst du als fragil, nervös, weniger belastbar, und umgekehrt, je tiefer die Stimme ist, desto eher hält man die Sprecherin für solide, zuverlässig, vertrauenswürdig, verstehst du?« Tatsächlich sprechen Frauen heute deutlich tiefer als vor 50 Jahren, doch etwas in der Ich-Erzählerin sträubt sich gegen die Überlegenheit der tiefen Stimme, die als Ausweis von Kompetenz und Autorität gilt, möchte nicht, dass feminine Stimmen »zu einer bedrohten Artenvielfalt gehören«. Stimmen sind veränderlich – ob dem Alter, dem Gesundheitszustand oder der Tatsache geschuldet, dass wir bewusst daran arbeiten –, doch die Stimme ihrer Freundin fühlt sich nicht mehr »stimmig« an.
Stimme macht Stimmung: Mit der Stimme ist es wie mit dem Atmen – bewusst beschäftigen wir uns erst damit, wenn es nicht mehr reibungslos funktioniert. Maylis de Kerangal selbst hat in einem Interview erzählt, dass die Pandemie, als die Maskenpflicht Stimmen filterte, sie dazu gebracht hat, sich mit dem Thema literarisch zu befassen. Ihre während dieser eingeschränkten Zeit geschriebenen Erzählungen erkunden die menschliche Stimme, ihre Materialität, ihre Stärken. »Chaque voix est saisie dans un moment de trouble, quand son timbre s’use ou mue, se distingue ou se confond, parfois se détraque ou se brise, quand une messagerie ou un micro vient filtrer leur parole, les enregistrer ou les effacer.« Die Schriftstellerin, 1967 in Toulon geboren, lebt in Paris und hat sich schon mit einigen Doku-Romanen über Aspekte der Arbeitswelt einen Namen als Gegenwartsautorin gemacht. In »Naissance d’un Pont« geht es um den (fiktiven) Bau einer Autobahnbrücke, in ihrem Buch »Réparer les Vivants« (Die Lebenden reparieren, Suhrkamp 2012), das auch verfilmt und ins Deutsche übersetzt wurde, um den medizinischen Wettlauf mit der Zeit, in »Un monde à portée de main« (Eine Welt in den Händen, Suhrkamp 2019) um die Rekonstruktion der prähistorischen Malereien in Lascaux, in »Un Chemin des tables« (Porträt eines jungen Kochs, Suhrkamp 2020) blicken wir mit der Autorin hinter die Kulissen der Gastronomie.
Maylis de Kerangal, Kanus, aus dem Französischen übersetzt von Andrea Spingler, Suhrkamp 2023