MAYLIS DE KERANGAL: PORTRÄT EINES JUNGEN KOCHS

Un chemin de tables: Eigentlich war es nicht vorherzusehen, dass Mauro Koch werden würde, auch wenn er es schon als Grundschüler liebte, jeden Tag nach der Schule einen Kuchen zu backen wie andere das Fußballspielen, Malen oder Lesen. Doch im Sabbatjahr, nachdem er sein Studium der Wirtschaftswissenschaften beendet hat, nach einem Semester in Lissabon, wo kulinarische Gelage eine größere Rolle spielen als die Uni, einem Sommer auf einem Öko-Bauernhof, wo er die Liebe zu mit Sorgfalt angebauten Lebensmitteln entdeckt, einigen Reisen und Gelegenheitsjobs in der Gastronomie wird aus der Leidenschaft fürs Kochen auch sein Beruf.

Kameraführung: Der kurze, keine 100 Seiten umfassende (Entwicklungs)Roman, der sich mit seinem szenischen Aufbau wie das Skript für eine TV-Dokumentation liest, folgt Mauros Laufbahn zwischen Handwerk und Kunst über viele Jahre. Maylis de Kerangal erzählt knapp, verdichtet zu Momentaufnahmen, in zwölf Kapiteln von der so fordernden wie erfüllenden Arbeit eines Kochs. Jedes Kapitel zeigt eine Station, die der junge Koch durchläuft – eine vornehme Pariser Brasserie, ein Sterne-Restaurant, ein kleines Feinschmeckerbistro, selbst eine Fleischerei… Erst Autodidakt, dann folgt eine Ausbildung, dann ein eigener Laden mit »erfinderischer, filigraner und unprotziger Küche«, von Berlin geht es zurück nach Paris und bis nach Thailand und Myanmar, und mit dem Koch zusammen entdeckt die Leserin die harte Realität professionellen Kochens, die Schufterei, die militärische Organisation, die Tätlichkeiten, die 70-Stunden-Wochen, die kurzen Nächte, die schlechte Bezahlung. Nach 15 Jahren eines Lebens eiserner Disziplin, das keinen Leerlauf kennt und zwingt, alles andere hintanzustellen, hält Mauro wieder inne… »J’arrête. Je suis fatigué. Crevé, épuisé, rincé, rançonné, cassé, brisé, rompu, moulu, vidé, exténué, harassé, claqué, naze. Ça ne se voit pas, mais je suis mort«. Keine Freizeit, keine Zeit für Freunde, Familie, Beziehungen. »Das Härteste an dem Beruf, weißt du, das Härteste, finde ich, ist, dass man dem Kochen alles opfern muss, dass man sein Leben dafür geben muss.«

Filmische Mittel für Dokus: Die Erzählerin trifft ihn mal hier, mal dort, hört ihm zu, beobachtet und befragt ihn, wie eine Kamera – ein Effekt, der durch das gewählte Präsens noch verstärkt wird. Gleich der Einstieg ähnelt einer Kamerafahrt – von Mauro im Zugabteil zoomt das Objektiv auf den Titel des Buchs »Die klassische Küche, Techniken und Grundzubereitungsarten, Kochanleitungen«, das der junge Mann gerade liest, um dann ins Buch hineinzukippen, auf Schritt-für-Schritt-Fotos. Mithilfe dieses regelmäßigen Auftauchens einer personalen Erzählerin fängt Maylis de Kérangal in literarisch verdichteten »Interviews« sozusagen »O-Ton« von Mauro ein. So ist der Lesende immer dann dabei, wenn wieder ein Umbruch dem Leben von Mauro eine neue Wendung gibt… Zunächst irritierte mich diese ständige Anwesenheit einer »Freundin«, mal mit im Bahnabteil auf der Fahrt nach Berlin, mal beim Hundesitten an der Bastille. Ich rechnete mit einer Verbindung der beiden Figuren (als Romanende), doch die bleibt aus, es ist ein Stilmittel. Und wie im Film ergibt die Aneinanderreihung von Sequenzen und Einstellungen in der Montage ein prägnantes Ganzes…

Maylis de Kerangal: Die Schriftstellerin, 1967 in Toulon geboren, lebt in Paris und hat sich schon mit früheren Doku-Romanen über Aspekte der Arbeitswelt einen Namen gemacht. In »Naissance d’un Pont« geht es um den (fiktiven) Bau einer Autobahnbrücke, in ihrem Buch »Réparer les Vivants« (Die Lebenden reparieren, Suhrkamp 2012), das auch verfilmt und ins Deutsche übersetzt wurde, um den medizinischen Wettlauf mit der Zeit, in »Un monde à portée de main« (Eine Welt in den Händen, Suhrkamp 2019) um die Rekonstruktion der prähistorischen Malereien in Lascaux – und den langen (Ausbildungs)Weg dorthin, so etwas zu können. Der schöne französische Titel ihres neuesten Buchs, »Un chemin de tables«, scheint unübersetzbar gewesen zu sein. Es ist zwar nicht der erste Blick hinter die Kulissen der Profiküchen – lesenswert ist das Buch »Die Irren mit dem Messer« von Verena Lugert –, aber wahrscheinlich der einfühlsamste und stilistisch eleganteste, ein kleines, feines Stück Literatur.

 

Maylis de Kerangal, Porträt eines jungen Kochs, übersetzt von Andrea Spingler, Suhrkamp 2020

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