LE PASSE-MURAILLE: DER MANN, DER DURCH DIE WAND GEHEN KONNTE
Montmartre: Gar nicht weit von den touristisch frequentierten Hot-Spots am Montmartre trifft man beim Bummel durch etwas abgelegenere Sträßchen auf allerhand hübsche Ecken und Kuriositäten, etwa die idyllische Sackgasse Villa Léandre, die abgewetzte Büste von Dalida, deren Brust unzählige Menschen berührt haben, weil das Glück in der Liebe bringen soll, die längste Treppe von Paris, den Jardin Fréderic Dard und die Grünanlage Square Suzanne Buisson mit der Statue von Saint-Denis, der als Märtyrer starb und seinen Kopf noch ein ganzes Stück Weges trug, und und und (zu anderer Zeit mehr darüber…). An der Place Marcel Aymé stößt man unvermutet auf den »Passe-Muraille«, den Mann, der durch die Wand gehen konnte. Auch die Hand dieser von Jean Marais geschaffenen Figur nach literarischem Vorbild glänzt – wohl deswegen, weil kaum jemand dem Versuch widerstehen kann, den Passe-Muraille aus der Wand ziehen zu wollen.
Le Passe-Muraille: Die gleichnamige Erzählung von Marcel Aymé, der auch selbst hier in der Rue Norvins am Montmartre lebte, erschien 1943: »Il y avait à Montmartre un excellent homme nommé Dutilleul qui possédait le don singulier de passer à travers les murs sans être incommodé.« Der Titelheld, ein kleiner Beamter in einem Ministerium, entdeckt mit Anfang Vierzig, dass er buchstäblich durch Wände gehen kann, und nutzt seine Gabe dazu, seinen Chef zum Wahnsinn zu treiben, der ihn häufig gedemütigt hatte. Bald geht er zu Einbrüchen über, und als er gefasst und ins Gefängnis gesperrt wird, gestattet Dutilleul sich regelmäßig Ausflüge ins Café, um von dort den Wärter um die Begleichung der Rechnung zu bitten. Wie die Geschichte ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Seine letzte Ruhestätte fand Marcel Aymé ganz in der Nähe, auf dem kleinen Friedhof von Montmartre, dem Cimetière Saint-Vincent.
Paris unter der deutschen Besatzung: Als eines meiner ersten Bücher erschien »Die dunklen Jahre der Ville lumière«, eine kommentierte literarische Anthologie über Paris 1940–1944 unter der deutschen Besatzung, veröffentlicht im Karl Henssel Verlag und leider lange vergriffen. (Bis heute bin ich stolz auf eine umfangreiche positive Rezension durch Lothar Baier in der ZEIT oder Erwähnungen in einschlägigen Bibliografien wie in der bei Thankmar von Münchhausen, »Paris. Geschichte einer Stadt«). Marcel Aymé habe ich in der Anthologie größeren Raum eingeräumt. Der populäre französische Schriftsteller (1902–1967) gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den meistgelesenen Autoren. Seinen bissigen Humor und seine komischen, pointierten Dialoge schulte er in den 1930er-Jahren auch als Drehbuch- und Theaterautor von Komödien. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Nonkonformist in Frankreich populär, doch kaum Literaturwissenschaftler beschäftigten sich ernsthaft mit seinem Werk und die Literaturkritik ignorierte sein Werk – das änderte sich erst mit einer Pléiade-Ausgabe. Damit ist eine edle Klassiker-Buchreihe des französischen Verlagshauses Gallimard gemeint – einmal in die »Bibliothèque de la Pléiade« aufgenommen, ist dem Autor oder der Autorin der literarische Olymp gesichert.
Lesenswertes: Nach seinem Tod 1967 geriet Aymé immer mehr in Vergessenheit. In Deutschland hat der Aufbau Verlag mit dem Band »Travelingue« (1941, Der wunderbare Friseur, 2013 erstmals auf Deutsch) versucht, eine Wiederentdeckung dieses satirisch-witzigen Autors, der zu den originellsten Erzählern Frankreichs gehört, möglich zu machen. Mit »Der Weg ins Blaue« (»Le chemin des écoliers«), das vom Leben unter Okkupation handelt (1989 schon einmal bei Matthes & Seitz erschienen), und »Uranus« über die Säuberungen nach Kriegsende sollten zwei Bände folgen, die sich heiklen Themen der französischen Geschichte widmen und dem Schriftsteller nicht nur Freunde eintrugen. Das scheint nicht mehr passiert zu sein. Der Drei Masken Verlag hat die Übersetzung zweier Komödien im Programm. Wenn Rezensenten oder Literaturhistoriker über Aymés Stil schreiben, ist die Rede von »kraftvoller Sprache«, »polternder Darstellung«, »zupackender Erzählweise«, »virtuos geschriebener Satire« oder »drastischer Fabulierkunst« – eine eher positive oder negative Bewertung der humoristischen Grotesken schwingt jeweils gleich mit. Der Rowohlt Verlag wählte für die 1983 erschienene Übersetzung des »Passe-Muraille« den schönen Gattungsbegriff Bürokrateske. Wer Aymé auf Französisch lesen kann, wird ein breites Sprachrepertoire entdecken, in das Argot-Ausdrücke ebenso einfließen wie phonetisch transkribiertes Englisch (fodeballe, travelingue, interviouve) und soziale Register von Bourgeoisie und Bauern, Politikern und Gaunern, Arbeitern und Intellektuellen. Ich kann nur empfehlen, sich das ein oder andere Buch von Marcel Aymé antiquarisch zu besorgen.