HEKTOR HAARKÖTTER: NOTIZZETTEL

»Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert«: Niklas Luhmann ist das bekannteste Beispiel unter den Wissenschaftlern, die für ihre materialreichen Arbeiten auf Zettelkästen zurückgriffen. »Ohne die Zettel, also allein durch Nachdenken, würde ich auf solche Ideen nicht kommen.« So wird er auf dem Umschlag des Buchs von Hektor Haarkötter, einer Kulturgeschichte des Notizzettels, denn auch zitiert. Als Luhmanns Gasthörerin während meines Literaturwissenschaftstudiums in Bielefeld tat ich es ihm nach, ohne Weiteres überzeugt von dieser Art des Denkens und Schreibens. Glücklicherweise konnte ich eine stattliche Anzahl an Karteischubladen einer Bibliothek gebraucht erwerben, und so füllte ich nicht nur für meine Dissertation fleißig Karteikarten mit Notizen und Zitaten (und legte Wörterlisten an), sondern als wissenschaftliche Mitarbeiterin auch für meinen Doktorvater, für den ich zu dieser Zeit für eine Goethe-Ausgabe unter anderem aus dem Grimmschen Wörterbuch exzerpieren musste. Beides erfolgreich: Mein Zettelkasten trug mir summa cum laude ein, die kommentierte Edition erschien im Deutschen Klassikerverlag. Als glühende Arno-Schmidt-Leserin war ich auch mit einem weiteren Meister der Verzettelungskunst vertraut, zudem lehrte an der Universität in Bielefeld zu dieser Zeit auch Jörg Drews, Herausgeber des Bargfelder Boten und Gründer des »Dechiffriersyndikats« zum Verständnis von »Zettels Traum«.

Zettelwirtschaft: Post-its und andere Haftnotizen, Schmier- und Spickzettel, Karteikarten, Einkaufs- und To-do-Listen – all das sind Zettel, auf denen Gedanken, Entwürfe, Listen, Skizzen provisorisch notiert werden. Ich erinnere mich an das Porträt eines Sammlers von Einkaufszetteln aus dem Supermarkt. Was den Bremer Künstler Joachim Fischer an den weggeworfenen oder verlorenen Listen fremder Mitmenschen faszinierte, erschloss sich mir sofort, auch ohne solche Listen hochtrabend »Poesie des Alltags« zu nennen. Wigald Boning wiederum hat ein Buch geschrieben darüber, wie das Lesen solcher Einkaufszettel die Fantasie anregt, leider mit dem gewollt humorigen Titel: »Butter, Brot und Läusespray – Was Einkaufszettel über uns verraten«. Bei Hektor Haarkötter kommen beide nicht vor, denn ihn interessieren aus gutem Grund nicht die »Leser« von Notizzetteln. Diese haben in der Regel keinen Adressaten: »Wer etwas notiert, tut dies in erster Linie für sich selbst und teilt nicht anderen etwas mit.« Und alles kann Notizzettel werden, eine Serviette, ein Bierdeckel, ein Briefumschlag, Blätter aus Kalendern, ein abgerissenes Stück Papier…

Verzettelt denken: Haarkötter lässt seine weit ausgreifende Geschichte des Notierens als Denk-, Arbeits- und Schreibprozess bei Leonardo da Vinci (1452–1519) und Ludwig Wittgenstein (1889–1951) beginnen (und beim Notieren im digitalen Zeitalter enden). Beide haben eine enorme, geradezu ausufernde Menge an Notizen hinterlassen. Ersterer soll an seinem Gürtel ein kleines Büchlein getragen haben, um darin Beobachtungen und Einfälle festzuhalten, letzter führte ebenfalls stets ein kartoniertes Notizbuch mit sich, aus dem er abends das Notierte in ein großes gebundenes Buch übertrug. Und auch im weiteren Verlauf des Buchs widmet sich Haarkötter unter anderem Autoren wie Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), »vielleicht einer der Ahnherren aller Notiz- und Sudelbuchschreiber«, Arno Schmidt (1914–1979) und Robert Walser (1878–1956) und ihrer auf Notizen basierten schriftstellerischen Methode. Wobei vermutlich fast allen literarischen Werken notizenhafte Entwürfe vorausgehen – allerdings gilt im Allgemeinen das (gedruckte) Endprodukt weit mehr als die (handgeschriebene oder getippte) Skizze. Wie faszinierend aber gerade diese »Vorstufen« sein können, zeigt die Dauerausstellung im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Abschreiben und Aufschreiben: Im Kapitel »Das handgeschriebene Buch« geht es um die Entwicklung vom Abschreiben, Kopieren als Mittel der Vervielfältigung zur persönlichen Handschrift. Zunächst hieß Schreiben vor allem »Schönschreiben« und dazu gehörte es auch, verschiedene Schriftstile zu beherrschen (ein Schreibhandwerk, das noch bis in 20. Jahrhundert die Buchstabenmaler erlernten, die Werbeschriftzüge auf Fassaden aufbrachten und Schilder für Läden und Restaurants fertigten). Es mussten »sowohl die lateinischen als auch die deutschen Schriftzeichen gemeistert werden, und letztere wiederum dreifach, nämlich neben der einfachen Kurrentschrift auch noch als stattliche Kanzleischrift sowie in den stattlichen Zierbuchstaben der Fraktur.« Mit der privaten, individualisierten Handschrift wird der Begriff im übertragenen Sinn zum Ausweis eines jeden individualisierten Tuns: »Die Handschrift einer Komponistin im Klangbild, eines Handwerkers bei seinem Meisterstück« wird sprichwörtlich. Weitere Kapitel sind Graffiti als »Notizen an der Wand« gewidmet und »begehbaren« Notizzetteln (Gefängniszelle, Künstleratelier), und um Einkaufszettel und Listen als Planungszettel für Bücher geht es dann auch (Theorie des Notizzettels V).

Verzetteln, um zu vergessen: Eine These des Buchs lautet, das Aufschreiben diene nicht dem Erinnern, sondern dem Vergessen. Was notiert wurde, braucht keinen Speicherplatz mehr im Kopf. Mangelnde Kohärenz sei genau deswegen großen Notizkonvoluten nicht vorzuwerfen. Im Gegensatz zum bündigen und systematischen, kohärenten Schreiben, das bedächtig Argumente entwickle, sind Notizen »häufig voller Selbstwidersprüche«. Wie passt das zum Notieren als einer Form des »externalisierten Denkens«, zum schriftlichen Denken? »Wer ein Notizbuch führt, der zeichnet nicht seine Gedanken auf, sondern seine Gedanken über etwas.« Und er muss nicht argumentieren, die eigenen Gedanken bedürfen keiner Rechtfertigung, da der Notizschreiber sich nicht anderen verständlich machen will. Notizzettel sind weder zum Erinnern noch zum Kommunizieren da (Theorie des Notizzettels I).

 

Hektor Haarkötter, Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 590 Seiten, ISBN 978-3-10397330-3

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