FRAUEN IM PARISER PANTHEON: GERMAINE TILLION UND GENEVIÈVE DE GAULLE-ANTHONIOZ
Frauen und Erinnerungskultur: Die »Monacensia im Hildebrandhaus München« hatte zur Blogparade #femaleheritage eingeladen und dazu ermuntert, unbekannte Persönlichkeiten, Texte und Werke zu entdecken. Ausdrücklich waren damit nicht nur Münchner Frauen und ihre Leistungen gemeint, auch Kulturhäuser und Blogger:innen aus anderen Städten waren aufgerufen, über die Präsenz von Frauen, ihre Leistungen und Lebensentwürfe im kollektiven Gedächtnis in den Austausch zu gehen und sie darüber hinaus in das kulturelle Gedächtnis einzuschreiben, auch unter dem Hashtag #femaleheritage. Leider habe ich den Aufruf erst kurz nach Ende des vorgesehenen Zeitraums vom 11. November bis zum 9. Dezember 2020 entdeckt, als schon knapp 160 Beiträge zusammengekommen waren. Wunderbar, dass so ein partizipatives Projekt so viel Resonanz findet! Das hat auch die Organisatorinnen wie Anke Buettner und Tanja Praske selbst sprachlos gemacht. Weil ich nicht die einzige Nachzüglerin bin und auf Nachfrage ergab sich, dass es eine kleine Verlängerung gibt… Als Frankreich-Spezialistin kommt hier ein Beitrag von mir zu zwei Französinnen – die nichts mit München, unfreiwillig aber sehr viel mit Deutschland zu tun hatten.
Club der toten Männer: Das Panthéon, ursprünglich als Kirche auf dem Hügel Sainte-Geneviève errichtet, ist heute als ›Ruhmestempel großer Franzosen‹ dem nationalen Totenkult gewidmet. Der antikisierende Bau ist Gruft und Gedenkort für berühmte Franzosen, und Männer sind hier in der Mehrheit. Eine Frauenquote gibt’s nicht: Eine der wenigen Frauen, der hier gedacht wird, ist die Chemikerin Marie Curie. Zuletzt wurden 2018, ein Jahr nach ihrem Tod, in Anerkennung ihrer Leistungen die sterblichen Überreste von Simone Veil hierher umgebettet, und im Jahr 2015 die beiden Widerstandskämpferinnen Germaine Tillion und Geneviève de Gaulle-Anthonioz hier beigesetzt – die größte Ehrung Frankreichs. Mit Sophie Berthelot (die allerdings als Ehefrau hier ihre letzte Ruhestätte fand) sind insgesamt nur fünf Frauen in den Tempel der »Grands Hommes« aufgenommen. Nachtrag am 30. November 2021: Heute erhält auch Josephine Baker einen Platz im Pantheon. Der Bau, dessen gewaltige Kuppel ein markanter Orientierungspunkt in der Pariser Silhouette ist, wurde 1764 im Auftrag von König Ludwig XV. begonnen. Dieser hatte während einer schweren Krankheit das Gelübde abgelegt, die Genoveva-Kirche zu erneuern. Jacques-Germain Soufflot (1713–80) errichtete einen klassizistischen Monumentalbau nach dem Vorbild des römischen Pantheons. Auch der Architekt selbst fand hier seine letzte Ruhestätte. Zur Zeit der Französischen Revolution und endgültig nach dem Tode Victor Hugos 1885 wurde aus der Kirche ein profaner Sakralraum: »Den großen Männern, das dankbare Vaterland« steht über dem Eingang. In der Krypta beigesetzt wurden unter anderem die Schriftsteller Victor Hugo, Voltaire, Denis Diderot, Jean-Jacques Rousseau, Émile Zola, André Malraux, Alexandre Dumas, der Widerstandskämpfer Jean Moulin, der Erfinder der Blindenschrift Louis Braille sowie der am Vorabend des Ersten Weltkriegs ermordete Sozialistenführer und Pazifist Jean Jaurès. Da die Fenster zugemauert wurden – an den Wandflächen schildern monumentale Fresken von Pierre Puvis de Chavannes (1824–98) das Leben der heiligen Genoveva – entstand ein düsteres Mausoleum. Für den eher ungemütlichen Teil in der Tiefe der kühlen Totenkammer entschädigt jedoch der herrliche Ausblick über das Quartier Latin, von der Säulengalerie der Kuppel in luftiger Höhe, zu der man hinaufsteigen kann (Place du Panthéon (5e), Métro: Jussieu oder Maubert-Mutualité, www.paris-pantheon.fr).
Im Widerstand 1: Die Ethnologin Germaine Tillion (1907–2008) ist eine der intellektuellen Persönlichkeiten Frankreichs, die maßgeblich an zentralen Ereignissen der deutsch-französischen und der franko-algerischen Geschichte im 20. Jahrhundert beteiligt war. Meine Lesetipps dazu: »Die gestohlene Unschuld« versammelt erstmals zentrale Texte von Germaine Tillion, die aus den verschiedenen Phasen ihres Lebens stammen: über ihre Arbeit als Ethnologin in Algerien zwischen 1934 und 1940, über Widerstand, Gefängnisaufenthalt und Deportation, über ihr Engagement in Frankreich nach 1945, über ihre Rückkehr nach Algerien in den 1950er-Jahren (erschienen im Aviva-Verlag). Ein Text von Germaine Tillion zum »Frauenkonzentrationslager Ravensbrück« erschien in deutscher Übersetzung 1998 im Verlag Dietrich zu Klampen (25 Jahre nach dem Original in Frankreich!) und 2001 als Fischer Taschenbuch. Sie hatte schon unmittelbar nach der Befreiung – noch »unter Aufsicht in einem Erholungszentrum« – damit begonnen zusammenzutragen, was die Frauen »von all den Häftlingen noch wußten, die wir durch Tod verloren hatten«, wozu auch ihre Mutter gehörte, die in Ravensbrück ermordet worden war. Als Mitglied der Résistance war Germaine Tillion 1942 von den Deutschen im besetzten Frankreich verhaftet und 1943 deportiert worden, und auch dass die studierte Ethnologin versuchte, ihre Zeit im KZ als »Studienobjekt« zu betrachten, war wohl eine ihrer Überlebensstrategien. Schon 1946 brachte sie eine erste Fassung der Schilderung des Lagerlebens heraus, eine der frühesten. Nach der Befreiung untersuchte sie am »Centre national de recherche scientifique« die deutschen Kriegsverbrechen; auf der Grundlage ihrer Beobachtungen entstand in Frankreich die erste wissenschaftliche Studie über Ravensbrück. Dass ihre Beschreibung der leidvollen Erfahrung vergleichsweise »schonend« für die Deutschen ausfällt, führen Leser:innen auf die Erfahrungen Tillions im Krieg in und um Algerien zurück – von 1954 bis 1962 trat sie als politische Aktivistin gegen die Folterpraxis der französischen Kolonialmacht in Algerien hervor. In den 1960er- und 1970er-Jahren widmete sie sich vor allem der Situation von Frauen in Afrika. Als Wissenschaftlerin und Widerstandskämpferin war sie ein Vorbild – und wurde im Mai 2015 mit einer Beisetzung im Pantheon geehrt.
Im Widerstand 2: Auch Geneviève de Gaulle-Anthonioz (1920–2002) hat sich als Widerstandskämpferin einen Namen gemacht, zudem durch ihren Einsatz für die Menschenrechte. Die Nichte von Charles de Gaulle war ebenfalls im Frauenkonzentrationslager in Ravensbrück inhaftiert. Nachdem sie sich als Studentin in Paris der Résistance angeschlossen hatte, wurde sie 1943 in einer Buchhandlung verhaftet und mit fast 1000 weiteren Frauen im Februar 1944 deportiert. Ihr Bericht »Durch die Nacht« über die Hölle der Unmenschlichkeit erschien in deutscher Übersetzung 1999 im Arche Verlag. Geneviève de Gaulle kam im April 1945 frei. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war sie in der nationalen Organisation der deportierten Frauen aktiv (ADIR), wurde Mitarbeiterin des Kulturministers André Malraux, und beteiligte sich ein Leben lang bei einer international agierenden Menschenrechtsorganisation (ATD Vierte Welt) am Kampf gegen die Armut.
Frauen und Erinnerungskultur: Ist nicht längst alles gesagt über Vernichtungslager von Zeugen wie Jorge Semprun, Elie Wiesel, Primo Levi? Ich finde, man sollte auch die Stimmen der Frauen nicht vergessen und ihre Aufzeichnungen weiter lesen können!