EINE ART SALADE NIÇOISE
Französischer Klassiker: Dieser Salat ist ein Resteessen, auch wenn das nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Ich hatte noch ein paar grüne Bohnen übrig, zwei überzählige Kartoffeln lagen in der Speisekammer, selbst der Salat war schon eine Woche alt, hatte sich aber in meinem formidablen Kühlschrank gut gehalten. Thunfisch hatte ich aus Frankreich mitgebracht, Zwiebeln, Staudensellerie, Tomaten, Kapern, Knoblauch und Kräuter habe ich sowieso immer da – es fehlte also nur wenig für einen Salat nach Nizzaer Art. Und mein Rezept? Grüne Bohnen vier Minuten kochen und kalt abschrecken, Kartoffeln gar kochen und pellen, alle Zutaten (siehe Foto) würfeln oder in Streifen schneiden, eine Vinaigrette aus Olivenöl, Essig oder Zitrone, Knoblauch, Senf, Schnittlauch, Salz und Pfeffer herstellen – und los geht’s. Die Menge auf meinem Arbeitsbrett ist für zwei Portionen gedacht, der Teller zeigt genau die Hälfte davon.
Andere Länder, andere Sitten: Meine allerältesten Kochbücher habe ich schon ausrangiert, aber bei den Frankreich-Rezeptsammlungen, die noch im Regal stehen, lässt sich gut ablesen, wie sich das Kochen verändert hat. In den 1980er- und 1990er-Jahren war Susi Piroué – zumindest beim damaligen Marktführer GU – die Expertin für die französische Küche. Ihr 1984 erschienenes »großes Bildkochbuch Französisch kochen« besitze ich in der fünften Auflage von 1993. Der Nizza-Salat sei auch Nichtkennern der französischen Küche bekannt, der teils sogar an deutschen Imbissständen aufgetischte Salat habe aber mit dem »südfranzösischen Nationalgericht« nichts gemein. Das Foto dazu zeigt allerdings nicht dasselbe wie das Rezept – Gurke und grüne Bohnen tauchen bei den Zutaten gar nicht auf, dafür sind auf dem Foto keine gelben Paprikaschoten zu sehen. Diese Nonchalance ginge heute nicht mehr – was davon dem Verlag, was der Autorin, was den anderen Zeiten anzulasten ist, wer weiß es – bestimmt allerdings der Dosenthunfisch.
Was isst Frankreich? Aus der gleichen Zeit stammt der große Prachtband »Die Kultur der französischen Küche« von Robert Freson, 1984 im DuMont Verlag erschienen (das englische Original 1983). Dort spielt das angebliche Nationalgericht im Provence-Kapitel keinerlei Rolle, dafür erfährt man zutiefst Erschütterndes: »Die provenzalischen Eßgewohnheiten richten sich nach den Jahreszeiten; die Leute kaufen täglich ein, die Tiefkühltruhe ist ihnen verdächtig.« Und: »Den ganzen April über streifen die Einheimischen durch die Hügel, um wilden Spargel zu suchen.« Erinnert der Duktus nicht fatal an Völkerkundler, die ein indigenes Volk beobachten? Kein Wunder, dass erst jetzt, fast vier Jahrzehnte später, das Völkchen der professionellen Köche und Food-Blogger, der selbsternannten Experten und Auskenner aller Art, festgestellt hat, was für ein Genuss wilder Spargel sein kann…
Quantensprung: Um die Jahrtausendwende waren die Deutschen weltläufiger geworden und ließen sich keine Aubergine mehr für eine Artischocke auf die Nase binden. Das im Jahr 2000 bei Droemer erschienene Kochbuch »La Bonne Grand-Mère« kommt ganz ohne Bilder aus, suggeriert dafür (erfolgreich) auf jeder Seite, dass hier nun wirklich die authentischen französischen Rezepte der »traditionellen französischen Landküche Frankreichs« versammelt sind. Zum Nizza-Salat heißt es, bei diesem Thema begebe man sich auf gefährliches Terrain, weil jeder zweite Provenzale Diskussionen um das »echte« Rezept beginne: Für das »knockout argument« wird Jacques Médecin bemüht, der umstrittene langjährige Bürgermeister von Nizza, unglücklicherweise aber falsch geschrieben (mit s statt mit c): »Welche Verbrechen werden an diesem reinen und frischen Salat begangen, der auf Tomatenbasis zubereitet wird und außer den Eiern ausschließlich rohe Zutaten enthält; der ohne Essig angemacht wird, dessen Tomaten dreimal gesalzen und mit einem Schuss Olivenöl übergossen werden! Ich bitte inständig alle diejenigen, die den Ruf der einheimischen Küche wahren wollen, niemals auch nur die geringste Menge gekochtes Gemüse oder eine Kartoffel in den Nizza-Salat zu geben.« Amüsant: Das Rezept selbst hält sich dann absolut nicht daran!
Zeitgeist in Rezepten: Schon dass Dosenthunfisch als Zutat zwingend gesetzt schien, zeigt ganz deutlich, dass das Rezept vermutlich niemals ein »Nationalgericht« war. Zuletzt befleißigte sich »Die Zeit« unter der Überschrift »Ein echter Nizzasalat« in der Wochenmarkt-Kolumne, den »verhunzten Klassiker« zu »rehabilitieren«. Was machte dort den Unterschied? Kein Dosenfisch, für den »echten« Salat wird frisches Thunfischfilet kurz angebraten, so dass es »innen noch fast roh« ist. Tja… Der Zeitgeist lässt grüßen! Andererseits: Wo doch gerade überall Dosenfisch-Bistrots aufmachen, von Lissabon und London bis Paris und Berlin…