BILL BUFORD: DRECK

Höllenjobs in der Küche: Reportagen und Autobiografisches aus den Küchen Frankreichs oder auch weltweit lese ich gern, von George Orwell über Nigel Slater, Verena Lugert und Karl Heinz Götze bis zu Anthony Bourdain, Maylis de Kerangal oder A.J.Liebling. Klar, dass dann auch Bill Buford auf meinen Lesestapel gehört  – der erfolgreiche Journalist hatte sich 2008 von New York und seinem Job beim »New Yorker« verabschiedet, um in Lyon als Koch die »Geheimnisse der französischen Küche« zu ergründen. Der Titel »Dreck« hört sich zunächst ein wenig nach »was Sie über Restaurants nie wissen wollten« an, doch das führt in die falsche Richtung. Zudem hatte ich schon »Hitze« geschätzt, seine 2006 erschienenen »Abenteuer eines Amateurs als Küchensklave« bei dem New Yorker Koch Mario Batali, bei einer Pastamacherin und einem toskanischen Metzger. »Ich muss nach Frankreich.«, war dort der letzte Satz.

Hauptstadt der Kochkunst Lyon: 2008, als Bill Buford mit Frau und den dreijährigen Zwillingssöhnen nach Lyon zieht, war die Stadt noch nicht ganz so aufgehübscht und cool wie heute, wo sie in Tourismus-Rankings ganz vorne landet. Feine Essadressen mit Michelin-Sternen (und Touristennepp in rustikalen Bouchons) gab es auch schon damals, und um das professionelle Kochen in einer Spitzenküche zu erlernen, ziehen der Autor und seine Frau, die sich als Weinexpertin weiterbilden will, dorthin – in die »capitale de la gastronomie«. Die Wohnung, die sie mieten, mit Blick auf das berühmte Fassadenkunstwerk »Fresque des Lyonnais«, unweit der Place Sathonay, liegt heute in einem angesagten Viertel der Stadt, und gleich in der Nachbarschaft sind die Lieblingsbistrots der Familie, Le Bouchon des Filles und Le Potager des Halles, nach wie vor empfehlenswerte Adressen.

Monsieur Paul: Die Stadt steht noch ganz im Zeichen des Jahrhundertkochs Paul Bocuse, den die Köche verehren – tritt er auf, greifen seine Adepten nach seinem Schürzenzipfel oder küssen sogar den Boden, den er betritt. Der französische Spitzenkoch begründete Mitte der 1960er-Jahre die »Nouvelle Cuisine« – und ein internationales kulinarisches Imperium. 2018 starb er im Alter von 91 Jahren – damit endet das Buch – und hinterließ ein globalisiertes Unternehmen mit Millionenumsatz und zahllose Schüler, die selbst große Karrieren machten. Bocuse führt Buford auch durch die seit 2006 nach ihm benannte Markthalle, eine Verneigung der Stadt vor dem berühmtesten aller Küchenchefs – heute prangt an einer Brandmauer gegenüber dem Eingang sein wandhohes Konterfei. Im Institut Bocuse wird der professionelle Kochnachwuchs ausgebildet, und auch Bill Buford gelingt es, als Schüler dort an Kursen teilzunehmen. Was ihm nicht auf Anhieb gelingt, ist ein französisches Restaurant zu finden, das ihn als Praktikanten nimmt, deshalb jobbt er zunächst als Bäckerlehrling.

Kochen lernen à la Bocuse: Der Altmeister Bocuse selbst sah sich in der Tradition der Mères Lyonnaises, legendärer Köchinnen, die zunächst in großbürgerlichen Haushalten der reichen Gesellschaft kochten. Ende des 19. Jahrhunderts machten sich einige »Lyoner Mütter« selbstständig und eröffneten kleine Speiselokale, die den Ruf Lyons als Frankreichs Gourmetstadt begründeten. An vorderster Stelle Eugènie Brazier, die als erste und bis heute einzige Frau gleichzeitig sechs Michelin-Sterne hielt, bei der Paul Bocuse das Kochen erlernte. Seit 2008 ist Mathieu Viannay der kreative Chef im »Mère Brazier«, und der Michelin krönte seine neoklassische Küche mit zwei Sternen. Buford gelingt es, ein »stage« von 17 Tagen in Viannays Küche zu ergattern, ein kurzes Praktikum, aus dem mehr als sechs Monate werden. Allen Widerständen zum Trotz gibt Buford nicht auf und unterwirft sich den rigiden Regeln und dem enormen Druck der französischen Spitzenküche… Wie nah Kameradschaft und Mobbing beieinander liegen, wie man vom Garde-Manger- zum Fleischposten aufrückt, was es heißt »le personnel« zu kochen, das Personalessen, das um Punkt 11 Uhr auf dem Tisch stehen muss, und natürlich, was alles schiefgehen kann – das beschreibt Buford in seiner humorvollen Art so, dass man zugleich mitlacht und mitleidet.

Hommage an gutes Essen: Das Buch ist so umfangreich, weil Buford auch das Drumherum beschreibt – den bürokratischen Aufwand beim Umzug in ein anderes Land, die Mentalitätsunterschiede, das Sprachenlernen, wie Freundschaften entstehen können, die Familie – und weil auch Lyon und vor allem Lyons kulinarische Szene Thema ist. Zudem unternimmt der Reporter immer mal wieder Ausflüge aus der Küche – trifft auf andere Köchinnen und Köche wie Anne-Sophie Pic oder Patrick Henriroux und besucht Erzeuger wie zwei Almkäser, die den feinen Beaufort des Alpages produzieren. Denn das hatte Buford schon in »Hitze« verstanden, dass gutes Essen nicht beim Kochen, sondern bei den Zutaten anfängt. Dieser selbstironische und kluge, leidenschaftliche und empathische Erfahrungsbericht ist für mich unterhaltsam und lesenwert, weil sich der Autor nicht auf den Blick hinter die Kulissen einer Profiküche beschränkt.

 

Bill Buford, Dreck. Wie ich meine Familie einpackte, Koch in Lyon wurde und die Geheimnisse der französischen Küche aufdeckte, aus dem Englischen übersetzt von Sabine Hübner, Carl Hanser Verlag 2020

Lyon Fresque des Lyonnais Bocuse

Lyon Wandmalerei Paul Bocuse Les Halles

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